Kultur? Welche Kultur?

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Foto: Fiona Lorenz

WIEN. (hpd) Das christlich (-jüdische) Abendland muss in Mitteleuropa mal wieder für einen Identitätsfindungsdiskurs herhalten. Allein, welche Kultur ist mit dem Begriff gemeint? Und was soll mit ihm gerechtfertigt werden? Eine Analyse.

CDU und CSU in Deutschland wollen es wieder mal wissen. Auch in Österreich flammt die Diskussion immer wieder neu auf. Spätestens, wenn jemand fordert, Kirche und Staat ernsthaft zu trennen, kommt verlässlich jemand mit dem Argument, das sei ein Anschlag auf das christliche Abendland, die christliche Leitkultur etc. Bei Bedarf kann man das Wort jüdisch beimengen, wenn man ein etwas offeneres und weniger hegemoniales Geschichtsverständnis suggerieren will. Wenig überraschend, verwahrt sich die jüdische Gemeinde Deutschlands dagegen, vereinnahmt zu werden. Das beigestellte „jüdisch“ ist geheuchelt. Es symbolisiert nur zur Schau getragene Shoa-Betroffenheit. Davon, dass mit dem Wort irgendjemand die historische Verantwortung des christlichen Klerus und der allerchristlichsten Landesfürsten bzw. der Reichsregierung für Pogrome und Shoa anerkennen würde, kann keine Rede sein. Es ist nur eine Floskel.

Wer jahrhundertelang diskriminiert und abgeschlachtet wurde, entwickelt ein feines Gehör für bedrohende Zwischentöne. Auch wenn es – vordergründig – nicht um einen selbst geht, sondern um andere. In diesem Fall Konfessionsfreie, die nach Vorstellung der Konservativen und stramm Rechten partout die Segnungen des Evangeliums für die demokratisch-freiheitliche Staatsordnung nicht annehmen wollen und die für Muslime, die sich aber nicht und nicht „anpassen“ wollen. Wenn die Goyim mit dem Kreuz wackeln, kriegt jemand eine aufs Dach. Irgendjemand soll aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Das wissen die Mitglieder der jüdischen Gemeinden und positionieren sich entsprechend.

Kultur als Leerbegriff

Nebenbei ist nicht einmal klar, wen oder was diese „christliche Leitkultur“ überhaupt bezeichnen soll. Die Konservativen und Rechtsextremen tragen den Begriff vor sich her – und schweigen sich wortreich über seine Bedeutung aus. Ihr Kulturbegriff ist ein Leerbegriff, in den jeder reinprojizieren kann, was er oder sie will. Vorzugsweise Emotion, die irgendetwas mit diffusen Heimatsgefühlen und dem Traum einer „guten alten Zeit“ zu tun hat. So wie Neoliberale den Begriff Markt für alles und jedes anwenden wollen: Im Kern sagt man nicht aus, man transportiert lediglich Vorstellungen von der Wirklichkeit. In der Hoffnung, diese Vorstellungen würden die Wirklichkeit verändern.

Diese Beliebigkeit macht es auch schwer bis unmöglich, das Konzept der „christlichen Leitkultur“ zu widerlegen – sieht man von den mittlerweile abgedroschenen Einwänden über die unheilvolle Rolle ab, die das Christentum in Europa gespielt hat. Die werden gerne vom Tisch gewischt. Und geht man von der Wirkung aus, die der Diskurs in der Öffentlichkeit hat, auch erfolgreich. Die „christliche Leitkultur“ wird überall nachgeplappert. Das hat irgendwas mit Werten zu tun, sind die Menschen überzeugt. Die zehn Gebote und so. Mehr können uns auch die ideologischen Väter der Idee nicht wirklich erklären.

Der Versuch, eine abendländische Kultur als Wurzel einer politischen Ordnung zu konstruieren, scheitert spätestens am Balkan und den Grenzen der Ukraine. Weder die katholischen Kroaten noch die Orthodoxen gleich welcher Prägung haben aus eigener Kraft nachhaltig demokratische Gesellschaften hervorgebracht. Das gleiche gilt für Deutschland, Österreich und Italien. Belgien und die Niederlande taugen aufgrund ihrer Kolonialgeschichte ebenso wenig als Beispiele für Musterdemokratien wie Großbritannien. Und wie war das noch mit Spanien und Portugal? Da dauerte es auch eine ganze Zeit. Und in jedem Fall stand die jeweilige Kirche bis weit ins 20. Jahrhundert auf Seite der undemokratischen Ordnungshüter. Bleiben in Europa die skandinavischen Länder, Frankreich, die Schweiz – und Tschechien. Ohne die Bedeutung dieser Länder für die demokratische Entwicklung herunterspielen zu wollen: Eine reichlich magere Ausbeute. Und wenn man sich die Paradebeispiele für Demokratie ansieht, Frankreich, Schweiz und Tschechien wird man sehen: Die Schweiz ist multikonfessionell geprägt, Frankreich ist streng laizistisch und in Tschechien ist die Mehrzahl der Menschen konfessionsfrei wenn nicht atheistisch. Nicht gerade Paradeargumente für das Konstrukt einer demokratiebedingenden „christlichen Leitkultur“.

Es bleibt der Schweinefleischesser

Wer sich diese Länder ansieht, wird schnell jeden des Wahnsinns bezichtigen, der auf die Idee käme, eine homogene Kultur für sie propagieren zu wollen. Zumindest im historischen Kontext – und nichts anderes behaupten die Schöpfer der Idee der „christlichen Leitkultur“. Gut, die Menschen können im Wesentlichen alle lesen, mögen gutes Essen, treffen gerne Freunde und sind meist imstande, die bedeutendsten Autoren ihrer jeweiligen Heimatländer aufzuzählen. Ihr Tag wird im Wesentlichen stundenweise strukturiert sein und sie gehen im Regelfall einer Erwerbsarbeit nach. Als Kriterien, um eine gemeinsame Kultur zu definieren, ist das eher wenig. Das sind Beschreibungen, die, gegebenenfalls mit geringen Abwandlungen, auf Menschen auf der ganzen Welt zutreffen. Man könnte vielleicht mit den gemeinsamen Festen argumentieren. Gut, das sind im Regelfall vordergründig christliche Anlässe. In so gut wie allen Fällen stellt sich heraus, dass es übernommene heidnische Feste sind. Und, nehmen wir mal Weihnachten: Lichterfeste in der dunklen Jahreszeit gibt’s auf der ganzen Welt und in vielen Religionen. In Europa kann man sich nicht mal auf das Datum des Fests einigen. Religiös inspirierte Feste sind und waren immer vor allem Folklore. Wer sich genauer mit ihnen auseinandersetzt, wird sehen, wie verschieden die Vorstellungen nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der europäischen Staaten sind. Zur Konstituierung einer religiös begründeten Über-Identität reicht das nicht.

Auf Ebene der Menschen bleibt die „christliche Leitkultur“ ein Leerbegriff. Wäre die so eindeutig, wie die Schöpfer des Begriffs behaupten, es gebe in Deutschland keine konfessionelle Zweiteilung, das große Schisma wäre nie passiert, die Heilige Inquisition wäre unnötig gewesen und Europa wäre seit Jahrhunderten eine demokratisch strukturierte Insel der Seligen. Bleibt als letzte Gemeinsamkeit, dass die Menschen im christlichen Abendland alle Schweinefleisch essen. Das tun sie aber auch anderswo.

Gemeint ist die Kultur der Mächtigen

Das können die Leitkultur-Aktivisten nicht gemeint haben – gesetzt den Fall, man unterstellt ihnen freundlicherweise, sie hätten irgendeine Vorstellung, was Kultur ist. Was sie meinen, ist eine Art Kultur der Mächtigen. Das waren die Einzigen, die sich nachweisbar als christlich identifizierten. Ob das Ausdruck einer Frömmigkeit war oder machtpolitisches Kalkül, sei dahingestellt. Eine platte Fortführung jener Art von Hofgeschichtsschreibung, die seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr dem wissenschaftlichen Standard entspricht. Und nebenbei im vorliegenden Fall auch eher von Wunschdenken zeugt und von bestenfalls oberflächlichen Geschichtskenntnissen als von einer Auseinandersetzung mit der europäischen Geschichte.

Gerade die allerchristlichsten der Herren waren die größten Gegner von Demokratisierung und Pluralismus – jenen Dingen, die Ausfluss einer „christlichen Leitkultur“ sein sollen. Was die Demokratie nach Europa brachte waren auch nicht christliche Überzeugungen. Es waren die Schrecken des Ersten Weltkriegs, die innerlich verrottete Regime der Reihe nach kollabieren ließen. Mit Christus auf den Fahnen und Weihrauch auf den Waffen wurden die Soldaten aufs Schlachtfeld geschickt. Mit Hunger, Zorn und meist mit der roten Fahne in der Hand erkämpften sie, erkämpften die ArbeiterInnen, erkämpfte die hungernde Bevölkerung die Freiheit. Von Christentum war da nicht viel die Rede. Das kam erst wieder, als auf den Schnallen der Reichswehrgürtel „Gott mit uns“ stand. Der bekanntermaßen fromme Karl Habsburg ließ wenigstens nicht mehr auf die Streikenden und die meuternden Soldaten schießen. Beweis für christliche Barmherzigkeit ist das nicht. Er fügte sich nur ins Unvermeidbare. Das hatte er schon zwei Jahre zuvor, als er nicht verhinderte, dass Giftgas gegen feindliche Truppen eingesetzt wurde.

Natürlich, die Herrschenden Europas, zumal die Adeligen, hatten so etwas Ähnliches wie eine gemeinsame Kultur. Ebenso wie später die Industriellen. Man lud einander zu Hochzeiten und anderen Familienfesten ein, korrespondierte eifrig und heiratete vorzugsweise untereinander. Letzteres zum Teil mit desaströsen gesundheitlichen Folgen für die Kinder. Welche emotionalen Krüppel die im Wesentlichen gemeinsame Erziehungskultur der Herrschenden Europas hervorbrachte, sieht man an Friedrich II., Wilhelm II. Louis XVI. und Franz Josef I. Dass man die Völker einander abschlachten ließ, konnte so viel gemeinsame Kultur nicht verhindern.

Dass diese Herrschenden Einfluss auf die europäischen Völker hatten und zu einem erheblichen Anteil die europäische Geschichte mitbeeinflussten, bestreitet niemand. Nur, Geschichte wird seit jeher nicht nur von den Mächtigen gemacht. Ihre Kultur ist nicht die Kultur des Volkes. Die Mächtigen sind ihrerseits Getriebene. Und für eine kritische Rolle der vermeintlich großen Persönlichkeiten in der Geschichte reicht dieser Platz nicht aus.

Der Begriff muss vage bleiben

Diese Ebene wäre die einzig mögliche, auf der man von einer „christlichen Leitkultur“ sprechen könnte, ohne den Begriff von jeglichem Inhalt zu befreien. Diese Ebene zeigt alles andere als eine vorherbestimmte, naturmächtige und unwiderstehliche Entwicklung in Richtung demokratischer Gesellschaft. Auf dieser Ebene wurde die wie auch immer gearteten „Werte“ nicht geschaffen, auf denen die freiheitlich-demokratische Staatsordnung Europas angeblich steht. Somit können die Schöpfer des Begriffs der „christlichen Leitkultur“ auch diese Ebene nicht wirklich gemeint haben.

Bleibt die Frage, was sie sonst gemeint haben. Und es entsteht der Eindruck, dass sie ein nebulöses Etwas meinen, das sie mit Hilfe von Post-68-er Bibelinterpretationen herbeifantasieren. Ohne die Bibel gelesen zu haben, wenn man ihnen zuhört. Was, nebenbei bemerkt, die Sinnlosigkeit staatlichen Religionsunterrichts unterstreicht. Das ist Absicht. Nichts mehr scheuen die selbsternannten Kulturverteidiger, als dass die Diskussion auf eine sachliche Ebene gebracht werden könnte. Dann könnten sie Argumente brauchen. Die haben sie nicht. Bequemer ist, mit einem sinnentleerten Kampfbegriff zu operieren, den man mit allerlei Emotionen aufladen kann und der sich hervorragend als Keule gegen alle eignet, die es wagen, nachzudenken. Letzteres gehört nicht so sehr zu den erstrebenswerten Eigenschaften eines Christenmenschen. Wohl aber zu denen eines Demokraten.

Christoph Baumgarten

Zu einer früheren Satire des Autors zum Thema geht es hier