TRAIN. (hpd) Immer mehr Menschen setzen bei gesundheitlichen Problemen auf Alternativheilverfahren. Sie konsultieren Heilpraktiker und Homöopathen oder verlangen von ihrem Hausarzt, dass er ihnen »sanfte«, »natürliche« und in jedem Falle »chemie-« und damit vermeintlich »nebenwirkungsfreie« Heilmittel verschreibe. Alternativheilkunde und Naturheilkunde werden häufig ineinsgesetzt. Tatsächlich haben sie überhaupt nichts miteinander zu tun.
Von Colin Goldner
Aus Apotheken-Rundschauen, Hausfrauenpostillen und Lifestylemagazinen sind den Lesern Dutzende von Verfahren geläufig, die sie für besonders sanft und natürlich halten: Alternativheilkunde und Naturheilkunde werden insofern häufig ineinsgesetzt. Tatsächlich haben sie überhaupt nichts miteinander zu tun.
Zu den wirklichen Naturheilverfahren – allesamt Teil der Schulmedizin – zählen Luft- und Lichttherapie, Wasseranwendungen, Entspannungs- und Bewegungsübungen, bewusste Ernährung und allgemein »gesündere Lebensführung«; pharmakologisch auch der Einsatz wirkbelegter Pflanzenpräparate. Im Gegensatz zu diesen bewährten Verfahren können die Alternativheilverfahren keinerlei tragfähigen Wirkbeleg vorweisen, ein Umstand, der mit Hilfe suggestiver Begleitbegriffe wie »unkonventionell«, »komplementär« oder auch »ganzheitlich« vertuscht wird. Wären die Alternativheilverfahren wirkbelegt, wären sie längst Teil der Schulmedizin.
Der große Zuspruch, den die Alternativheilkunde erfährt, begründet sich darin, daß ihre Anbieter sich dem jeweiligen Patienten und seinen Problemen meist sehr viel intensiver zuwenden, als Schulmediziner dies tun. Es ist ein erhebliches Manko des schulmedizinischen Versorgungssystems, dass viel zu wenig Zeit aufgewandt wird, dem Patienten wirklich zuzuhören und persönlich auf ihn einzugehen. Eben deshalb wenden sich rat- und hilfesuchende Menschen gerne an Heilpraktiker und Homöopathen, bei denen sie sich allein schon des anamnestischen Zeitaufwandes wegen sehr viel ernster genommen fühlen als in der regulären Arztpraxis oder Klinik. Die Alternativheilverfahren selbst erscheinen attraktiv, da sie – auch wenn dies nicht zutrifft – als »natürlich wirksam« und damit »nebenwirkungsfrei« angepriesen werden. Der Umstand, dass viele davon auf magisch-okkulte Wirkkräfte abstellen – Geistheilung, Reiki, Touch for Health – tut ein übriges.
Es spricht überhaupt nichts dagegen, bei kleineren Beschwerden und Mißbefindlichkeiten, auch zur Vor- und Nachsorge, naturheilkundliche Verfahren einzusetzen. Abzuraten ist indes von sämtlichen Verfahren und Praktiken der sogenannten Alternativheilkunde, die, wie gesagt, mit Naturheilverfahren überhaupt nichts zu tun haben.
Skepsis ist allemal geboten, wenn von »Schwingungen« oder »Lebensenergien« die Rede ist, die da »gesteigert« oder »harmonisiert« werden sollen; desgleichen, wenn das jeweilige Verfahren als »unkonventionelle«, »komplementäre«, »ganzheitliche« oder sonstig alternative »Erfahrungsheilkunde« angepriesen wird, die insofern der »Schulmedizin« turmhoch überlegen – oder zumindest ebenbürtig – und zudem völlig nebenwirkungsfrei sei. Letzteres kann nur für jene Verfahren gelten, die, wie z.B. Bachblütentherapie, überhaupt keine Wirkung haben. Einige der Alternativheilpraktiken, Akupunktur etwa oder Neuraltherapie, bergen ungeahnte Risiken, und selbst vermeintliche Harmlosverfahren wie Aromatherapie sind keineswegs risikofrei. Ansonsten besteht das Hauptrisiko alternativer Heilverfahren darin, daß der rechte Zeitpunkt zum Einsatz einer verfügbaren und sinnvollen Therapie verpaßt wird, wodurch sich das jeweilige Problem massiv verschärfen kann.
Abstand zu halten ist von Anbietern, die ihre diagnostischen oder heilerischen Fähigkeiten von »höherer Warte« – von Engeln, Jesus oder »aus dem Kosmos« – bekommen haben wollen oder die Praktiken verwenden, die die Gesetze von Physik, Chemie oder des »gesunden Menschenverstandes« außer Kraft setzen. Göttliche Heilkräfte und Engelsenergien gibt es nicht, ebensowenig diagnostisch brauchbare Aussagen aus dem astrologischen Horoskop oder solche, die mit Pendel und Wünschelrute gewonnen wurden.
Auch das vielzitierte Schlagwort »Wer heilt, hat recht« kann nicht zur Bestätigung der Alternativheilverfahren herangezogen werden. Tatsächlich heilen diese – über einen allemal möglichen Placeboeffekt hinaus – gar nichts. Vielmehr beruhen ihre »Erfolge« darauf, dass unterschiedlichste Beeinträchtigungen der Gesundheit nach einer Zeit »von selbst« wieder verschwinden. Menschen mit derlei Beeinträchtigung suchen häufig »alternative« Heiler auf, die dann, ebenso wie sie selbst, natürliche oder spontane Heilungsverläufe bzw. zyklische Besserungen als Ergebnis der jeweiligen »Behandlung« interpretieren. Eine »irgendwann« eintretende Besserung kann dann der jeweiligen Behandlung zugute geschrieben werden, auch wenn diese mit dem Heilungsverlauf überhaupt nichts zu tun hat.
Insofern spielen auch Realitätsverzerrungen eine Rolle: Selbst wenn keine Verbesserung nachweisbar ist, können Anhänger alternativer Heilverfahren davon überzeugt sein, dass ihnen geholfen wurde, allein, weil sie sich besser fühlen. Es kann dieses »Gefühl der Besserung« ein durchaus bedeutsamer Genesungsfaktor sein, der allerdings nichts mit dem angewandten Verfahren zu tun hat. Keine Besserung zu erhalten, nachdem man viel Zeit, Geld und guten Glauben in eine alternative Behandlung investiert hat, führt oft auch dazu, dass ein ausbleibender Erfolg konstruiert wird, allein schon, um das ansonsten notwendige Eingeständnis zu vermeiden, einem Quacksalberverfahren aufgesessen zu sein. Wider jede Vernunft und mit oftmals nachgerade fanatischem Glaubenseifer werden jede Kritik und Selbstkritik abgewehrt.
Grundsätzlich abzuraten ist von Anbietern, die über kein akademisches Fachstudium verfügen. Ausreichende Qualifikation des Therapeuten und Wirksamkeitsnachweis des eingesetzten Verfahrens geben zwar keine Garantie für einen Erfolg, aber das Risiko seitens des Patienten ist minimiert. Besondere Vorsicht ist insofern walten zu lassen bei der Konsultation von Heilpraktikern. Diese verfügen zwar über eine formale Berechtigung zur Ausübung der Heilkunde, ihre Ausbildung kann indes dem Anspruch seriöser Heilbehandlung nicht ansatzweise genügen. Im Übrigen werden Alternativheilverfahren nicht brauchbarer dadurch, dass sie vielfach auch in Arztpraxen und Kliniken anzutreffen sind und dass einige davon sogar in die offizielle Aus- und Fortbildung von Ärzten Eingang gefunden haben.
Gegen die Quacksalberverfahren der Alternativheilkunde zu sein, heißt keineswegs, der Schulmedizin oder Pharmaindustrie blind zu vertrauen. Ganz im Gegenteil: Kritik ist auch und gerade hier unabdingbar. Es darf die notwendige Kritik an Mediziner- und Pharmalobby allerdings nicht dazu führen, windigen Heilpraktikern mit ihren erwiesenermaßen unbrauchbaren Alternativheilverfahren auf den Leim zu gehen.