Christlicher Glaube als Weisheitslehre?

Müssen solche Sätze sein? Ich denke nicht. Sie sind es, die das Buch als ganzes in seiner Aussage zwiespältig machen. Die Verschraubtheit dieser Sätze ist nur die Kehrseite der offenkundigen Unmöglichkeit, christlichen Glauben in einer nachvollziehbaren, von Wahn und Aberglaube unterscheidbaren Weise zu begründen. In solchen Zusammenhängen gibt es ein Vorbild: das „erhabene Schweigen“ Buddhas. Dieser widerstand beharrlich der Versuchung zur Geschwätzigkeit in Angelegenheiten der Transzendenz - und hat eben damit ein wichtiges Kennzeichen einer wirklichen Weisheitslehre vorgegeben.

Wie also steht es mit dem Anliegen, christlichen Glauben als Weisheitslehre zu etablieren? Zugegeben: viele Theologen und Pastoren haben sich heute, im Vergleich zur Selbstgewissheit ihrer Verkündigung in früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten, schon ein Stück weit zurückgenommen. Ihr Ton ist gemäßigter geworden, sie müssen sich darum kümmern, dass ihre Botschaft an das Leben der Menschen anschlussfähig bleibt. Wie also steht es - falls dies das Anliegen Scobels mit seinem Buch ist - mit der Beförderung einer christlichen Weisheitslehre? Die Antwort kann nur sein: hierfür fehlen so gut wie alle Voraussetzungen. Auch die gutwilligsten Uminterpretationen können nicht daran vorbei, dass das Gesamtkonzept des christlichen Glaubens (das christliche „Paradigma“) unwiderruflich auf eine Vorstellung von Diesseits und Jenseits, von Schuld und transzendenter Erlösung, von einer einmaligen und unwiederholbaren göttlichen Intervention in die Geschichte, von einer ewigen Bedeutsamkeit zeitlicher Ereignisse ausgeht und davon weder absehen kann noch will. Gerade weil Scobel den Glauben an die genannten Vorstellungen erhalten will (wenn auch nicht als dogmatische Lehre), verfehlt er die intendierte Weisheit, die an erster Stelle
Bescheidenheit und eine Abstinenz von metaphysischen Fabeleien verlangt.

Weisheitslehren kommen ohne religiösen Glauben aus (Scobel selbst weist auf S. 257 darauf hin - wundert sich allerdings darüber: „Seltsamerweise gibt es im Buddhismus so etwas wie Glauben nicht“). Paulus, sein Kronzeuge für das, was christlicher Glaube heißt, setzt dagegen bekanntlich alles auf den Glauben (beispielsweise zu Beginn des Römerbriefs in 1,16f.: das Evangelium ist „eine Kraft Gottes, die jeden rettet, der glaubt“; ähnlich 3,27ff. und an vielen anderen Stellen). Paulus hat kein Gespür dafür, wie sehr er damit sein eigenes beschränktes Denken und Meinen überschätzt.

Scobel will - in der Rolle des Moderators - niemandem zu nahe treten. Das ehrt ihn, verleiht seinem Buch aber eine merkwürdige Unentschiedenheit. Man weiß nicht recht, worauf es eigentlich hinaus will. Nun - in einem Punkt hat er jedenfalls recht: Menschliches Leben und Zusammenleben ist ohne Glauben und Vertrauen nicht möglich. Dieser Befund rechtfertigt aber weder unkritische Vertrauensseligkeit im Alltagsleben („…Kontrolle ist besser“) noch religiösen Glauben an jenseitige Phantasmen. Weisheitslehren zeichnen sich eben dadurch aus, dass sie weder einen „tollpatschigen Atheismus“ (Sloterdijk) predigen - die Existenz oder Nichtexistenz eines jenseitigen Wesens ist für sie ebenso unentscheidbar wie belanglos - noch (wie Paulus) durch nichts belegte Glaubensforderungen aufstellen, die treuherzig zu befolgen sind. Sagen wir es ganz deutlich: Der Glaube an den Gott des Paulus (und um den geht es, wenn vom Christentum die Rede ist) - der jedenfalls geht mit menschlicher Vernunft nicht zusammen. Und auch Scobels freundliche Bemühungen sind in diesem Punkt vergeblich.

Weisheit vertraut auf die menschliche Intelligenz und Unterscheidungsfähigkeit, ohne deren Bedingtheit und Begrenztheit aus dem Auge zu verlieren. In die Fliegenfalle wird nur der geraten, der nicht bemerkt, wie er sich durch einen ausschweifenden Gebrauch seiner Denkfähigkeit selbst zur Fliege macht: Er sieht nicht, dass er durch seine Spekulationen selbst die Trennscheiben produziert, die die Welt in ein Drinnen und Draußen, ein Diesseits und Jenseits, in Vernunft und religiösen Glauben aufspalten und es ihm unmöglich machen, noch irgendwo in dieser zerrissenen Realität wirklich zuhause zu sein. „Drinnen“ nicht, weil er dies als Gefängnis betrachtet, „draußen“ nicht, weil er da, solange er lebt, niemals hinkommt. Wer keine Fliege ist (wer die Wirklichkeit seines Lebens wahrnimmt und sich ihrer bewusst wird), lässt sich nicht in diese Zweiteilung der Realität hineinlocken. Er rennt nicht mit dem Kopf gegen Wände, seien sie aus Glas oder aus Gedanken. Er bleibt der unausschöpfbaren einen Wirklichkeit seines Lebens treu und lässt sich von ihr tragen, wohin immer es sich ergibt.

Herbert Gerl

 

Gert Scobel, Der Ausweg aus dem Fliegenglas. Wie wir Glauben und Vernunft in Einklang bringen können. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2010. ISBN-13: 978-3100702142, Euro 22,95.