BERLIN. (hpd) Wie steht es aktuell um die sexuelle Selbstbestimmung von Menschen hierzulande und weltweit? Ist sie eine Selbstverständlichkeit oder muss sie wieder erkämpft werden? Diese Fragen diskutierte die Fachtagung „Sexuelle Selbstbestimmung – Realität oder Utopie? Das Recht auf reproduktive Gesundheit nach 20 Jahren Wiedervereinigung“.
Mittwoch Abend, im Wappensaal des Roten Rathaus Berlin, reichten die aufgestellten Sitzreihen zur positiven Überraschung der Veranstalterinnen anfangs nicht und Stühle um Stühle mussten noch hereingetragen werden.
Eingeladen hatten das Berliner Netzwerk Frauengesundheit, das Berliner Familienplanungszentrum – BALANCE, der Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft e.V. (AKF) und der Berliner Landesverband des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD).
Entsprechend hatte die Tagung ihren Focus auf die sexuelle Selbstbestimmung und reproduktive Gesundheit von Frauen. Wesentliches Element dafür ist das Recht jeder einzelnen Frau, über ihren Körper und eine Schwangerschaft selbst zu entscheiden. Insofern sind Familienplanung, Verhütung und die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs Kernfragen des sexuellen Selbstbestimmungsrechts von Frauen. Das Publikum bestand entsprechend weitgehend aus Frauen in allen Altersklassen und nur einigen, wenigen Männern.
Spezieller Hintergrund der Tagung sind die Aktivitäten selbst ernannter Lebensschützer, die auch in Berlin aktiv geworden sind. Daraus ergibt sich die Frage, ob die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen in Gefahr ist. Das Netzwerk Frauengesundheit besteht seit zehn Jahren und viele Frauenbelange seien (noch lange) nicht realisiert.
Im ersten Teil des Abends, unter der Moderation von Dr. Ines P. Scheibe (Schwangerschaftskonfliktberatung des HVD in Berlin), waren die Vortragenden:
- Anne Thiemann (Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Deutschen Instituts für Menschenrechte e.V., Berlin) über »Sexuelle Selbstbestimmung als Menschenrecht«
- Dr. Gisela Notz (Sozialwissenschaftlerin, Historikerin, Arbeitskreis Frauengesundheit und ehemalige Vorsitzende von pro familia, Berlin) über »Perspektiven sexueller Selbstbestimmung in der Familienplanung«, sowie
- Hartwig Hohnsbein, Ev. Gemeindepastor i. R. und Politologe, Göttingen, über »Einfluss und Aktivitäten fundamentalistisch-christlicher selbsternannter Lebensschutzorganisationen«.
Anne Thiemann (links im Foto) referierte Gedanken und Einschätzungen aus Sicht der Menschenrechte. Das sexuelle Selbstbestimmungsrecht benennt das Recht aller Frauen, nicht gegen ihren Willen ‚benutzt’ zu werden. Es richtet sich gegen jede Form von Nötigung und Gewalt, gegen Sexualität mit Kindern und für die reproduktiven Rechte von Frauen.
Es meint aber auch gleichzeitig die Rechte der eigenen geschlechtlichen Orientierung und ihre gesellschaftliche Akzeptanz. In mehr als einem Drittel der Staaten der Welt wird jedoch Homosexualität immer noch geächtet.
Das Recht auf reproduktive Gesundheit ist seit der Kairoer Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung der Vereinten Nationen (ICPD) 1994 anerkannt. Es umfasst auch die Entscheidungsfreiheit, ob, wann und wie oft eine Frau schwanger wird, als Teil der Frauenrechte. Im Zentrum des Widerstands gegen diese Rechte steht die Frage des Schwangerschaftsabbruchs. Das Thema war in Kairo nicht benannt worden und bisher gibt es nur ein internationales Dokument, in dem dieses Recht thematisiert wird. Es besteht jedoch ein stärker werdendes Bewusstsein für Familienplanung, das Recht der Gesundheit von Frauen und die schwerwiegenden Folgen illegaler Schwangerschaftsabbrüche.
Im Menschenrechtskontext beginnt das Recht auf Leben mit der Geburt. Jedoch gib es keinen allgemeinen europäischen Konsens darüber. Allerdings haben verschiedene Staaten Europas ihre Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch liberalisiert, auch hat der Europarat gefordert, den Schwangerschaftsabbruch straffrei zu stellen.
Dagegen formiert sich seit einigen Jahren verstärkt ein heftiger Widerstand, insbesondere getragen von den USA während der Präsidentschaften von Reagan und Bush, sowie von der katholischen Kirche. Dem muss eine umfassende Bildung über sexuelle und reproduktive Gesundheit entgegengesetzt werden.
Dr. Gisela Notz verwies in einem Exkurs zur Geschichte des Abtreibungsparagraphen auf den Kampf um die Macht über die weibliche Reproduktionsfähigkeit.
Der Paragraph 218 StGB wurde 1871 mit der Reichsverfassung in Kraft gesetzt. Er ahndete einen Schwangerschaftsabbruch mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren. Der Kampf dagegen war immer auch ein Kampf gegen das Patriarchat. 1909 gab es eine Gesetzesinitiative mit der Forderung nach Fristenlösung und Straffreiheit. 1926 wurde Abtreibung vom Verbrechen zum Vergehen umgewandelt – statt Zuchthaus gab es nun Gefängnisstrafen. Unter den Nationalsozialisten wurde das Kind zum wertvollsten Gut der völkischen Gemeinschaft erklärt und 194 wurde die Abtreibung bei deutschen Frauen unter Todesstrafe gestellt.
Die DDR führte früh eine Indikationslösung ein, 1972 eine Fristenlösung. In der alten Bundesrepublik dauerte es dann schließlich bis 1974 / 1976, bis eine Indikationslösung mit Beratungszwang Gesetz wurde. Bemerkenswert war u. a. die Stern-Kampagne von 1971: „Wir haben abgetrieben!“ Widerstand gab es insbesondere von Seiten der Kirchen und vor allem von Seiten der katholischen Kirche.
Der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland ist immer noch strafbar und Indikationen sind nur Ausnahme. Und: Der Täter ist immer noch die Frau!
Hartwig Hohnsbein,pensionierter evangelischer Theologe, der 1966 bis 1991 Gemeindepastor in Wolfsburg war, berichtete über seine persönlichen Erfahrungen mit Evangelikalen und versicherte: „Wenn sie Macht haben, machen sie davon ungehemmt Gebrauch.“
Eine der Grundlagen der Evangelikalen stammt aus dem deutschen Pietismus und enthält die Elemente Bibel – Bekehrung – Mission. Es wird an die Irrtumslosigkeit der Bibel geglaubt und zwar in allen Fragen des Glaubens und des Lebens. Jede befruchtete Eizelle gilt bereits als göttlich beseelt und darf nicht abgetrieben werden. Wesentliche Elemente sind zudem die Menschen-, Frauen- und Leibfeindlichkeit des Paulus.
Unter dem Dach der Evangelischen Allianz sammeln sich auch die selbst ernannten „Lebensschützer“, wie der Bundesverband Lebensrecht. Diese Organisationen sind nicht nur verantwortlich für das „Christival“ 2008 in Bremen (Schirmherrschaft Bundesministerin Ursula van der Leyen), sondern auch für die Aktion „Weihnachten im Schuhkarton“, den „Kongress christlicher Führungskräfte“, sowie für den "1.000-Kreuze-Marsch".
Sie arbeiten mit direkten Einschüchterungen, verbreiten Angst und veranstalten Aktionen wie den „Babycaust“. Als Bibeltreue sind sie der Ansicht, dass nur sie die Werte hätten, mit denen eine Gesellschaft gestaltet werden kann.