PARIS. (hpd) Wer die Menschen kennenlernen will, muss ins Museum. Das ist die Erkenntnis von Gesellschafts-Kolumnist Carsten Pilger nach drei Museumsbesuchen innerhalb von drei Tagen in Paris. Bei der hohen Dichte überzeugender und weniger überzeugender Museen in der französischen Hauptstadt, fiel es ihm nicht immer leicht, Ausstellung und Mensch voneinander zu trennen. Und er konnte sogar etwas über sich selbst lernen.
Es ist Donnerstagnachmittag, Feiertag. Trotzdem stehe ich in einem Einkaufszentrum. Die Idee kam von einem alten Schulfreund, nennen wir ihn S., der gerade in Paris ist. Das Einkaufszentrum ist das Caroussel du Louvre und befindet sich direkt unter dem wohl bekanntesten Museum Frankreichs, wenn nicht gar der Welt. Aus Sicht der Geschäfte war es sicherlich nicht die schlechteste Idee, um die lange Warteschlange herum Boutiquen aufzubauen. Der Name „Louvre“ zieht Menschen magisch an und schließlich ist das Geld in Paris dort, wo die Touristen sind.
Nach einer Dreiviertelstunde betreten wir den Louvre. S. investiert zu den zwölf Euro Eintritt fünf Euro in einen Audioguide. Im Louvre ist der Audioguide eine tragbare 3D-Spielkonsole mit zahlreichen Bildern und starken Hörbeiträgen. Nach etwa 20 Minuten drückt mir S. das Gerät in die Hand, da er bemerkt, dass er sich nicht mehr auf die Exponate konzentrieren kann. Das Dilemma zwischen dem Eindruck des Originals und der profunden wissenschaftlichen Information entscheidet letztlich das Exponat für sich. Die plötzliche Nähe zum Gegenstand überwältigt S.
Leichter fällt die Entscheidung für die zahlreichen Touristengruppen: Das Ausstellungsstück ist der Star und das heißt natürlich: Mona Lisa. Der Louvre versammelt zwar Kunst- und Kulturschätze mehrerer Kontinente, aber natürlich bekommt nur ein Werk die Ehre zu Teil, eigene Hinweisschilder zu haben. Das liegt vielleicht am Umstand, dass Leonardo da Vincis Bildnis einer Frau bereits gestohlen wurde – oder, so die Verschwörungstheoretiker, gar nicht das Abbild einer Frau, sondern des Malers selbst ist. Wie dem auch sei: Hier kann kaum die Magie des Moments oder eine Vertiefung des Wissens über ein Werk die Motivation sein. Was zählt, ist das Selfie mit Mona Lisa, zusammen mit anderen Touristen. So wie man das halt 2015 macht, wenn man eine Berühmtheit trifft.
Anderer Tag, anderer Ort. In der Galerie de Paléontologie et d’Anatomie Comparée sind zahlreiche Skelette und Organteile zu bestaunen. Der Vorschlag kommt von A. Sie ist eine sehr aktive Museumsgängerin und begründet die Auswahl der Galerie im Jardin des Plantes mit dem unschlagbaren Argument: Knochen. Es ist der morbide und widersprüchliche Charme des 19. Jahrhunderts, der hier nicht nur auf vergilbten Hinweisschildern überlebt hat. Rückständig, wo einäugige Katzen und andere Mutationen im Einmachglas als „Monstrositäten“ bezeichnet werden. Vorwärtsgewandt, wo dem Mensch seine Verwandtschaft zum Tierreich und seine Vergänglichkeit demonstriert wird. A. bemängelt zu Beginn die wenigen Erklärungen in der Ausstellung. Sie ist nicht überwältigt von den Exponaten, sondern weiß, welche Teile des Museums sie interessieren – und welche nicht. Wo S. sich nicht zwischen der Rolle als aktiver und passiver Museumsbesucher entscheiden konnte, hat A. die Wahl längst getroffen.
Das liegt daran, dass in dieses kleine, skurrile Museum tatsächlich die Leute gehen, denen es weniger um einen speziellen „Star“ der Ausstellung geht. Viele Eltern mit Kindern bringen ihren Jüngsten mit dem Anblick bleicher Knochen Wissen über das Tierreich bei. Das leichte Kribbeln, hinter dem Schaufenster echte, einst lebende Subjekte (oder ihre Einzelteile) zu bestaunen, stellt sich bei vielen Heranwachsenden an. Manchmal sogar bei Erwachsenen. Auch viele Kunststudenten nutzen die Skelett-Galerie, um technische Zeichnungen anzufertigen. In einer Mischung aus Konzentration und leichter Bewunderung lassen sie die Bleistifte über das Papier wandern – unbeeindruckt von den fehlenden Sitzmöglichkeiten.
Am Sonnabend hat das Musée Quai Branly im Rahmen der Europäischen Nacht der Museen bis Mittnernacht geöffnet. Der Star ist hier der Museumsbau selbst, vor dem sich die Schlange aus Schaulustigen die Beine in den Bauch steht. Auch eine kleine deutsche Gruppe mittendrin, darunter Museumsbegeisterte, wie -skeptische. Der Skeptiker bin dieses Mal ich, der das Museum von einem früheren Besuch zwar kennt, aber von der erklärungsarmen Dauerausstellung weniger angetan war.
Im Quai Branly wird außereuropäische Kunst nicht nach ethnologischen, sondern künstlerischen Aspekten ausgestellt: Malereien auf Baumrinden, Masken, Schmuck und Skulpturen. Vielleicht war mir das beim ersten Besuch weniger bewusst, sodass die Begeisterung damals überschaubar blieb. Doch dieses Mal lasse ich mich mehr auf die Kunst ein und finde Gefallen am Quai Branly. So auch mein Schulfreund T., ein weiterer Besucher in Paris. In einem Raum zeigt eine Videoinstallation, wie Menschen um ein Feuer herumtanzen und dabei singen. Er ist begeistert vom Ritual, das aus der Kombination ganz simpler Dinge Kunst entstehen lässt.
Unweigerlich kommt mir dieser Teil der Ausstellung wieder in den Sinn, als wir zum Abschluss der Museennacht im Keller des Quai Branly zu arabischen Klängen, gemischt mit elektronischer Musik, in der Menschenmenge tanzen. Eine Sonderaktion, getanzt wird sonst im Museum nur auf Bildschirmen. Und doch frage ich mich: Ist das Kunst? Gehören wir in ein Museum? Als Kunstwerke? Wer weiß. Auch die Menschen, die in Ozeanien um das Feuer herumgetanzt haben, taten das weder für den Dokumentarfilmer, noch für ein französisches Museum. Sie tanzten für sich, so wie wir in diesem Augenblick. Ob man nur zuschaut oder selbst die Arme bewegt: Am Ende lernt man vielleicht auch so den Menschen besser kennen.