PARIS. (hpd) Der Sprung ins Ungewisse, der Akt ohne Drahtseil, die unpopuläre Entscheidung. Was macht den Mutigen zum Mutigen? Carsten Pilger beobachtet in seiner Gesellschaftskolumne aus Frankreich den Mut, der nicht immer mit der Vernunft Hand in Hand geht. Aber manchmal schon.
„Was ist Mut?“
Kaum ein Schüler, der nicht die angebliche Prüfungsfrage aus dem Deutschabitur kennt. Der wagemutige Abiturient, der es wagte, statt einer Abhandlung ein schlichtes „DAS ist Mut“ unter die Fragestellung zu setzen, erhielt die Bestnote, so jedenfalls die moderne Sage. Ein netter Schwank, der das eigentliche Rätsel zwar zu lösen glaubt, aber doch nur bestätigt, dass der Mensch zwar das Gefühlserlebnis als solches kennt, aber nicht wirklich versteht, wieso er mutig sein kann. Oder auch nicht.
Ortswechsel, Urlaub in Marseille. Die Calanques sind viele einzelne Küsteneinschnitte, gekennzeichnet durch die steilen Kalksteinwände, die Land und Wasser trennen. Badeurlauber wie Wanderfreunde ziehen die Calanques an. Doch der Hingucker sind neben dem atemberaubend schönen Landschaften die Jugendlichen, die einer objektiv eher unvernünftigen Beschäftigung nachgehen. Aus über 15 Metern Höhe springen sie von verschiedenen Stellen der Felsen hinunter in die Bucht. Mal schnurstracks, mal mit Salto und Schraube, immer mit Kletterschuhen, um danach den Aufstieg zu bewältigen. Für manche Routine, für andere Mutprobe.
Ist das nun Mut? Jener verließ mich ganz schnell, als ich mich aus Neugier direkt auf eine Absprungstelle wagte, um in den Abgrund zu schauen. Deutliche Signale des Körpers – leichter Schwindel, flauer Magen, eine kalte Hautoberfläche. Nein, das tust Du nicht. Erst die Konfrontation mit der Aussicht auf die Tiefe lässt das Gefühl nachvollziehen, das den Mut behindert. Der Widerstand. Er sagt: Bezwing mich jetzt und das ist Mut.
Wer aus 15 Metern in Meerwasser springt, ist durchaus mutig, sofern es ihn die Überwindung kostet, aber er springt eben halt nur in Wasser. Vielleicht nicht einmal für sich selbst, sondern um vor anderen unglaublich mutig zu erscheinen. Doch ist nur das Mut?
Ortswechsel. In der Assemblée Nationale, der französische Gegenpart zum Bundestag, wurde in dieser Woche ein Gesetz verabschiedet, das ein Relikt früherer Tage zu Grabe trägt: Das „livret de circulation“, einen Schein, den erwachsene, nichtsesshafte Personen, die in Frankreich „gens du voyage“ genannt werden, stets bei sich tragen müssen. Eine diskriminierende Regelung, die Menschen ohne festen Wohnsitz trotz französischer Staatsbürgerschaft dazu zwingt, sich einmal pro Jahr auf einer Polizeiwache vorzustellen und einen fixen Heimatort zu nennen. Zusammen mit den linken Oppositionsparteien verabschiedeten die Sozialisten das Paket.
Die Abgeordneten dürften beim Verabschieden kaum das Kribbeln durchlebt haben, das sich kurz vor einem Sprung in die Tiefe andeutet. Politische Prozesse sind langwieriger und unvorhersehbar. Und dennoch findet sich auch hier das Element der Überwindung, des Widerstands. Die Umfragewerte für die Regierung sind katastrophal, die Arbeitslosigkeit auf einem Rekordhoch. In solchen Zeiten sind gerade Minderheitengruppen Ziel diffuser und aggressiver Schuldvorwürfe, so etwa die „gens du voyage“, die oft in die Nähe negativer Bilder wie Kriminalität und Verwahrlosung gerückt werden.
Natürlich klingen die Vorgeschichte und der legislative Prozess kaum nach Mut oder Überwindung. Was allerdings bleibt, ist der Widerstand, gegen den für eine Haltung eingestanden wird, die eine bestehende Diskriminierung abbaut. Im Wahlkampf in Frankreich bringen Parolen gegen die „gens du voyage“ im Speziellen und gegen Fremde im Allgemeinen Stimmen. Wer sich für sie einsetzt, riskiert hingegen seine Wiederwahl.
Der Mensch kann mutig sein, um sich vor anderen zu beweisen. Er kann aber genauso gut seinen Mut für andere unter Beweis stellen. Die Fallhöhe kennt der Mensch erst hinterher.