„Starke Zivilgesellschaften entwickeln“

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Andrew Copson / Foto: Arik Platzek

OSLO. (hpd) Wenn Europa einem erneuten Versuch zur Dominanz durch die Religionen standhalten soll, müssen sich in den neuen EU-Ländern starke Zivilgesellschaften entwickeln. Andrew Copson, Direktor der British Humanist Association, plädierte im Interview beim World Humanist Congress in Oslo für einen Weg jenseits von Konsumerismus und Nihilismus.

hpd: Was beschäftigt die British Humanist Association in Großbritannien grad am meisten?

Andrew Copson: Eine große Sache sind für uns die staatlich finanzierten religiösen Schulen. Während der letzten Legislaturperiode gab es eine Ausweitung der Regelungen für sogenannte Faith Schools (glaubensbasierte Konfessionsschulen, Anm. d. Red.). Das sind Schulen, die zu 100 Prozent vom Staat finanziert werden und für deren Betrieb religiöse Gruppen verantwortlich sind. Sie können sich zum Beispiel nach religiösen Gesichtspunkten die Menschen aussuchen, die in der Schule beschäftigt werden und eigene Lehrpläne auf Grundlage ihres Glaubens erstellen. Für Jahrzehnte war die Menge dieser Schulen gleich und nun wächst ihre Zahl. Derzeit gibt es außerdem eine neue Deregulierung im Bildungssektor, was weiter zum Wachstum beitragen wird. Dieser Wandel im Bildungssystem ist im Augenblick die größte Herausforderung, der wir uns widmen müssen und deren Effekte große Gefahren für die Rechte von Kindern, säkularen Menschen und die Ideen einer humanistischen Gesellschaft bergen.

Wie kann der Prozess umgekehrt werden?

Wir arbeiten mit verschiedenen Ansätzen. Dazu gehört die Arbeit unserer Parlamentsmitglieder, um auf die Umsetzung des Education Bill Einfluss zu nehmen, der Teil des Umbaus im Bildungssystem ist. Wir entwickeln Lehrpläne, weil wir in die Regelungen für die religiösen Schulen mit unserer humanistischen Perspektive eingeschlossen werden wollen und versuchen damit ebenso, einen kulturellen Wandel herbeizuführen wie auch mit Hilfe der Gesetzgebung. Wir werden uns in der kommenden Zeit ebenfalls eingehender mit der Frage beschäftigen, inwiefern die UN-Konventionen über die Menschenrechte und die Rechte der Kinder für unsere Ziele auf gesetzliche Ebene herangezogen werden können.

Befinden sich die Humanisten in Großbritannien derzeit an einem Wendepunkt?

Was ist ein Wendepunkt? Wir sind jedenfalls in den vergangenen Dekaden immer wieder gewachsen. Das Wachstum war nicht immer gleich groß, sondern manchmal schneller und manchmal langsamer. In unserer Geschichte gab es drei wichtige Wachstumsphasen: Eine in den 1890er Jahren, eine in der 1960er Jahren und die dritte findet im Augenblick statt. Derzeit ist das Wachstum der humanistischen Bewegung in Großbritannien größer als zu anderen Zeiten, das kann man sagen. Auch die Buskampagne in Großbritannien hat eine Menge Menschen zu uns gebracht. Jetzt ist die Debatte um die Faith Schools eine Ursache. Und auch der wieder zunehmende, allgemeine Einfluss von religiösen Gruppen auf die Öffentlichkeit und das Leben in einer Weise, von dem wir bis vor einigen Jahren wirklich dachten, das sei vorbei (lacht). Eine große Hilfe für uns und unsere Anliegen waren gleichzeitig viele Veröffentlichungen von atheistischen und humanistischen Autoren, vor allem vor Beginn der heutigen Wirtschaftskrise. Damals gab es die Gelegenheit für Menschen, sich über noch andere Themen als die drängendsten Probleme im Alltag Gedanken zu machen, anstatt sich nur mit der Frage nach der Finanzierung von Mieten und Lebensmitteln zu beschäftigen. Davon haben wir profitiert, denn humanistische Philosophien haben in der Diskussion über den Sinn des Lebens, unsere allgemeinen Werte sowie die Frage über Möglichkeiten für ein gutes Leben und ein gutes Zusammenleben eine Menge anzubieten. Lassen die sozialen, gesellschaftlichen Umstände einen Anlass für eine Reflexion darüber zu, neigen viele Menschen zur Beschäftigung mit diesen Themen und die Begeisterung für humanistische Ideen, um eine Haltung für sich und gegenüber ihren Mitmenschen zu entwickeln.

Vor kurzem gab es erschreckende Aufstände in London. Was denken Sie darüber?

Ich sehe zwei Fehler in der britischen Politik, die ich herausheben würde. Zum einen haben wir nicht genug Aufmerksamkeit der notwendigen Feststellung geschenkt, dass sehr viele unterschiedliche ethnische Gruppen in der Stadt leben. Ich wohne nur zwei Minuten vom Ort entfernt, wo die Proteste ihren Ausgangspunkt hatten. Dort gibt es eine große Menge von Einwohnern, die in der Türkei, Polen und afrikanisch-karibischen Ländern ihre Herkunft haben. Dazwischen gibt es noch viele andere Menschen unterschiedlichster Ethnien und zugleich die Tatsache, dass zwischen ihnen keine Bindungen existieren. Sie schaffen keine Gemeinschaften. Wir brauchen Verbesserungen in der Politik, um hier den Austausch, die Interaktion und die soziale Kohäsion zu fördern. Schon am zweiten Tag konnte man sehen, wie sehr auch interethnische Trennung die Gewalt förderte. Da gab es eine Gruppe türkischer Ladenbesitzer, die eine Gruppe von jungen Leuten mit schwarzer Hautfarbe zusammengeschlagen hat. Die Instabilität in solchen Gegenden rührt unter anderem daher, dass Menschen nebeneinanderher leben und sich nicht kennen. Anstatt als Gemeinschaft leben sie voneinander getrennt vor sich hin. Das ist ein großes Problem, um das wir uns kümmern müssen.


Wen meinen Sie mit „uns“?

Wir, die Menschen in Großbritannien. Auf die Rolle der Humanisten komme ich gleich noch zu sprechen. Die zweite Sache ist, dass junge Menschen in unserer Kultur oft von Phänomenen angezogen werden, die Konsum oder auch Gewalt ziemlich stark in den Mittelpunkt stellen. Damit wird ihnen ein Sinn und Zweck für und im Leben vermittelt, ob es nun um eine sehr materialistische Haltung oder gewaltorientierte Kultur wie etwa Gang-Identitäten geht. Kurzfristig orientiertes Belohnungsbewusstsein führte zum Überfall auf Geschäfte, weil man dadurch ein iPhone bekommt. Ich glaube, wir sollten uns mehr für die Stärkung einer Kultur einsetzen, die persönliches Wohlbefinden und allgemeine Fürsorge für alle jungen Menschen fördert. Man darf sie nicht einfach den Mächten des Marktes überlassen. Es geht schließlich für uns alle immer darum, dem Leben eine Bedeutung zu geben und wir haben nur wirklich ein Leben (lacht).

Wenn Menschen ihr positives Potential in diesem Leben nicht entfalten können, bekommen sie danach einfach keine zweite Chance. Daher brauchen wir bessere Möglichkeiten, dass diese Sinnstiftung im Leben gelingt. Damit sich junge Menschen und ihrer Mitwelt eine positive Bedeutung verleihen können. Das muss ein aktiver Teil unserer Politik werden.

Haben sich nihilistische Haltungen nicht bereits zu Prozessen verselbstständigt, die nicht mehr zu beeinflussen sind?

Ja, auf jeden Fall gibt es diese nihilistische Sicht auf die Dinge. In einigen Kulturen ist sie eine Art Mainstream, der Menschen einschränkt und isoliert. Wir sollten dabei natürlich nicht vergessen, dass die Mehrheit der Menschen sich die meiste Zeit gut und fair einander untereinander verhält. Aber in einigen Bereichen unserer Kultur, die junge Menschen bindet, existiert ein echter Nihilismus und darauf müssen wir eingehen. Ich glaube, die Religionen können diese Menschen nicht erreichen, auch wenn sie dafür zu einem gewissen Teil verantwortlich sind. Die christlichen Kirchen fördern ganz stark die Idee, dass da noch ein Leben kommen wird und damit eine Art Unverantwortungsbewusstsein im Hier und Jetzt mit Blick auf ein anderes Leben. Wir müssen deshalb solche Dinge in einer humanistischen Weise viel ernster nehmen. Denn in der Zeit, in der wir tatsächlich leben, können wir schließlich einen echten Sinn finden. Wir müssen uns nicht dem Nihilismus, dem Konsumerismus und der Unterwerfung unter die Mächte des Marktes hingeben. Doch bei diesem Thema gibt es auf staatlicher Ebene viele starke Meinungsunterschiede und wenige Regierungen sind bereit, hier eine Klärung zu finanzieren.

In Europa gibt es heute fast überall Demokratien, mehr oder weniger. Die Rede von Regierungen ist daher auch immer eine Rede über uns selbst.

Ja, das stimmt.

Was sehen Sie nun beim Blick auf Europa und die EU?

Ich denke, dass eine Sache besonders für die neuen EU-Mitglieder wichtig ist: Sie sollten starke Zivilgesellschaften entwickeln – so stark, wie wir sie im westlichen Europa als gegeben ansehen. Gibt es keine starke Zivilgesellschaft in den Gesellschaften, werden Lücken anders ausgefüllt. Das besorgt uns sehr. Es werden viele Kirchen kommen, aber vor allem die katholische Kirche wird versuchen, in solche Lücken in den Zivilgesellschaften der östlichen Länder Europas zu treten – falls wir diesen Gesellschaften nicht bei ihrer Entwicklung helfen. Und sehen Sie all die heutigen Konkordate mit der Kirche? Ich bin überzeugt, hier haben wir einen wichtigen Punkt.

Sollten wir uns auf die Kritik daran beschränken?

Nein. Wir sollten uns auch für eine humanistische Perspektive auf das Zusammenleben der EU-Bürger einsetzen, mit ihren unterschiedlichen Glaubenshaltungen. Wir haben Gruppen mit starken religiösen Wurzeln in Europa, wir haben hier Migranten mit ebenso starken religiösen Wurzeln in anderen Kulturen und wir haben die Idee eines säkularen Miteinanders, um den Menschen mit und ohne Glauben ein Zusammenleben auf dem gleichen Kontinent, innerhalb einer nationalen Gemeinschaft möglich zu machen.

Kann es sein, dass diese Idee des säkularen Miteinanders wiederentdeckt werden muss?

Mit dieser Idee sollten wir uns wieder stärker beschäftigen. Und selbst Humanisten müssen insofern auch lernen, innerhalb Europas zu kooperieren. Dazu gehört es, Meinungsunterschiede aus nationaler Perspektive beilegen zu können. Denn die Geschichte der nationalen Bildungssysteme wie auch der politischen Systeme ist oft sehr unterschiedlich. Und das sollten wir realisieren und versuchen, miteinander auf einer persönlichen Ebene stärker ins Gespräch zu kommen. Natürlich sollten wir auch deshalb kooperieren, um mehr Gehör in den EU-Gremien zu finden – sowohl als Vertreter von Gruppen als auch von allgemeinen Interessen. Die EHF könnte hier eine wichtige Rolle spielen.

Ist jetzt schon die Zeit reif, um auch humanistische, skeptische und andere Gemeinschaften in den Entwicklungsländern zu unterstützen?

Ja. Das ist sehr wichtig. Wir könnten sicherlich jederzeit darauf verweisen, nicht genug Mitglieder, Zusammenarbeit und Geld in unseren europäischen Gemeinschaften zu haben. Aber auf jeden Fall existiert zu wenig davon auch in den Entwicklungsländern – nicht nur in Uganda oder Sri Lanka. Hier können wir sogar über Polen oder Chile sprechen. Es ist vital, sich dort zu engagieren. Ich träume davon, dass sich nationale Gemeinschaften von diesen Atheisten, Humanisten und Skeptikern mal einen Partner in den Entwicklungsländern suchen. Wir könnten viel damit erreichen.

Macht das die British Humanist Association?

Jetzt und hier an diesem Ort.

Die Fragen stellte Arik Platzek