Deutschland Deine Kinder (9)

Über die biblischen Begründungen und Rechtfertigungen von Kindesmisshandlung und die Irrlehre der christlichen Erbsünden-Theorie als Legitimation, nicht-eheliche Kinder als „Kinder der Sünde“ abzuwerten, wurde jedoch kein Wort verloren. (1)

Präses Schneider und der Präsident des Diakonischen Werkes erklärten gemeinsam: "Es beschämt uns, dass die Atmosphäre in evangelischen Heimen oft nicht vom Geist christlicher Liebe geprägt war. Damit sind Kirche und Diakonie schuldig geworden - vor denen, die uns anvertraut waren, und vor Gott."

"Im Namen der Evangelischen Kirche in Deutschland und im Namen des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland bitten Präsident Stockmeier und ich die betroffenen Heimkinder für das in evangelischen Heimen erfahrene Leid um Verzeihung", ergänzte Präses Schneider.

Auf die ehemaligen Heimkinder wirkte die Veranstaltung von EKD und Diakonie weniger wie eine ernst gemeinte Schuldanerkennung, sondern zielte eher auf die Rehabilitierung des erschütterten Selbst- und Weltverständnisses der evangelischen Kirche selbst ab. Die ehemaligen Heimkinder fühlten sich instrumentalisiert, der Bitte um Verzeihung entgegen zu kommen.

Keine unabhängige Aufklärungs-Kommission

Hier wurde wieder einmal deutlich, wie unhaltbar die Empfehlung des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages im Jahr 2008 war, anstatt einer unabhängigen Aufklärungs-Kommission einen Runden Tisch Heimerziehung einzuberufen, der aus den Täter-Nachfolgeorganisationen zusammengesetzt war und an der nur wenige betroffene OpfervertreterInnen ohne Rechtsbeistand mitarbeiten durften. Die EKD-Diakonie-Veranstaltung am 11.09.2011 war eine Folge dieser Entscheidung, dass Täter-Nachfolgeorganisationen selbstbestimmt gegenüber ihren Opfern klären dürfen, wie die Verfahren zur Anerkennung des Unrechts und der Rehabilitierung der Opfer ablaufen.

Den ehemaligen Heimkindern ist es ein dringendes Bedürfnis, dass die Täter Verantwortung für die Straftaten, die Vernachlässigungen, die sexuelle Gewalt, die Zwangsarbeit, den religiösen Zwang, die Zwangsmedikation und die Unterdrückung der Persönlichkeitsentfaltung übernehmen. Aber die christliche Bitte der Täter um Vergebung verkehrt sich all zu leicht in eine Forderung an die Heimkinder, zu vergeben. Traumatisierte Opfer, denen von Kindheit an das Recht auf eine eigene Perspektive abgesprochen wurde, dürfen nicht in die Situation gebracht werden, sich durch Versöhnungsrituale genötigt zu fühlen, ihren Tätern zu vergeben und sich zu versöhnen.

Versöhnung sei ein ganz seltenes Ereignis, so der Psychotraumatologe Prof. Dr. Günter Seidler: "Vor einer Versöhnung steht erst einmal der Hass. Nach einer sehr hassvollen Phase kann es sehr selten so etwas wie vergessendes Versöhnen geben. Wir sollten uns aber darüber im Klaren sein, dass Versöhnung ein sehr seltenes Ereignis ist." Sie sei möglich bei Alltagsvorgängen, im Fall von systematischem Unrecht in Machtkonstellationen käme sie jedoch einer erneuten Verunglimpfung oder Kränkung der Opfer gleich.

Auch Prof. Dr. Silke Gahleitner, die im Auftrag des Runden Tisches Heimerziehung die Expertise über Traumatisierungen bei Heimkindern verfasst hatte, warnt vor „vorgezogenen Versöhnungserwartungen“ und „halbherzigen Entschuldigungsversuchen in Konjunktiven“. Unabdingbare Voraussetzung sei die vorbehaltlose Anerkennung des geschehenen Unrechts. (2)

Für ehemalige Heimkinder ist es eine absurde Situation, wenn sie immer wieder in Versöhnungsrituale mit den Täter-Nachfolgerganisationen verstrickt werden. Denn die Grundbedingung für eine gelingende Traumatherapie ist es, so die renommierte Traumatherapeutin Michaela Huber, dass das Opfer den Kontakt zum Täter und zur Täterorganisation und auch zu passiven Tätern (täterloyalen Mitwissern) beendet. Sonst ist jede Therapie zwecklos, denn die Traumatisierung geht weiter. (3)

Aber kein Berufsverband von Psychotherapeuten und Psychologen hat sich je öffentlich dazu positioniert, was dies für Opfer der christlichen Großkirchen bedeutet. Zu groß scheint auch hier die Verstrickung zu sein, denn die Kirchen sind nach wie vor die größten Arbeitgeber im Gesundheits- und Sozialbereich.

Daniela Gerstner und Evelin Frerk

 

  1. Vgl.: Franz Buggle: Denn sie wissen nicht, was sie glauben, 2004. Vgl. auch: Manfred Kappeler: Anvertraut und ausgliefert, 2011. http://hpd.de/node/11817
  2. Silke Gahleitner (2009): Was hilft ehemaligen Heimkindern bei der Bewältigung ihrer komplexen Traumatisierungen? (Seite 50,51) 
  3. Vgl: Michaela Huber (2009): Trauma und die Folgen. Teil 1, Wege der Trauma-Behandlung. Teil 2

 

Die Berliner Regionalgruppe ehemaliger Heimkinder hat sich zu dieser Veranstaltung positioniert

Erklärung zum Schuldbekenntnis der Evangelischen Kirche und des Diakonischen Werkes Deutschland:

Wir begrüßen das Bekenntnis, dass in den 40er bis 70er Jahren Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen der Evangelischen Kirche schweres Unrecht angetan wurde.

Wir sind enttäuscht, dass Kirche und Diakonie, in Übereinstimmung mit dem Bund und den Ländern, die zentralen Forderungen der Ehemaligen Heimkinder abgelehnt haben. Damit wird das Schuldbekenntnis zu einem reinen Lippenbekenntnis herabgewürdigt.

Wir kritisieren, dass an der Basis von Kirche und Diakonie Ehemaligen Heimkindern mit Abwehr, Ignoranz und dem Bestreiten von Gewalttaten wie sexueller Gewalt, begegnet wird.

Wir fordern die Leitungen der evangelischen Kirche und des Diakonischen Werkes auf, in der Frage der Entschädigung beispielgebend voranzugehen und außerdem eine Beschwerdestelle für Fehlhandlungen kirchlicher Einrichtungen und Mitarbeiter einzurichten.

Berliner Regionalgruppe ehemaliger Heimkindern
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