Missbrauch - Am Herz des Katholizismus

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Hubsi Kramar als Kardinal / Fotos: Freidenkerbund / Bettinger

WIEN. (hpd) In Wien haben am Donnerstag Nachmittag und Abend hunderte Menschen an der „Langen Nacht des Missbrauch“ teilgenommen – direkt vor dem Stephansdom, dem Herz des Katholizismus in Österreich. Ein symbolischer Ort mit Tücken. Die Veranstalter sprechen von einem Erfolg.

Straßenkünstler gegen Straßenprotest. Nur wenige Meter von der Bühne der „Langen Nacht des Missbrauch“ entfernt, buhlen Tänzer um die Aufmerksamkeit des Publikums. Der Stephansplatz ist der vermutlich belebteste öffentliche Platz Wiens. Tag für Tag verdienen hier Pantomimen, Musiker und Künstler ihr Geld. Die nicht-kommerzielle Konkurrenz hat es am Anfang etwas schwer, auch etwas von der Aufmerksamkeit zu bekommen. Erst nach und nach wird den Passanten klar, worum es geht: Den Skandal um sexuelle, körperliche und psychische Gewalt an Kindern in kirchlichen Einrichtungen anzuprangern. So nah am Herz des österreichischen Katholizismus hat es noch nie eine derartige Aktion gegeben. Einen symbolischeren Ort hätten sich die Veranstalter, die Plattform Betroffene kirchlicher Gewalt und das Volksbegehren gegen Kirchenprivilegien nicht aussuchen können. Zum Erstaunen der Organisatoren machten die Behörden keine Anstalten, die Stand-Demonstration in ruhigere Gefilde wie den nahe gelegenen Stock-im-Eisen-Platz abzudrängen. „Ich bedanke mich bei der österreichischen Bürokratie und dem österreichischen Gesetzgeber, die es uns mit der Versammlungsfreiheit ermöglichen, gerade hier zu stehen“, reagiert Sepp Rothwangl fast überschwänglich. Er ist Obmann der Plattform Betroffene Kirchlicher Gewalt.

 

 

Schauspieler, Regisseur und Aktionist Hubsi Kramar spielt in seinem ersten Auftritt mit dem Ambiente. Er betritt die Bühne in Soutane und purpurner Kardinalskappe. „Hört auf Lämmchen zu sein“, ruft er das Publikum dazu auf, das Volksbegehren zu unterschreiben. An dessen Stand hat sich eine Schlange gebildet. Auch heute ist ein Notar da, der kaum nachkommt, die Unterschriften zu beglaubigen. „Der Papst-Besuch in Deutschland hat da sicher für Aufwind gesorgt“, zeigt sich Judith aus Wien überzeugt. Ein Vorarlberger Student ist gerade aus den Sommerferien zurückgekommen und unterschreibt ebenfalls. In den vier Stunden, die der Notar da ist, wird er kaum fünf Minuten Pause haben.

Lang hält man es nicht aus

Bei aller Symbolträchtigkeit hat der Platz seine Tücken. Ginge es bloß darum, eine Massenbewegung zu suggerieren, hätte es geeignetere Plätze gegeben. Nach dem Vorbild der FPÖ hätte man einfach einen engen Platz wählen müssen. Das lässt selbst kleine Menschenansammlungen gewaltig erscheinen. Auf diesem großen Platz verläuft es sich schnell. Die Zuhörer stehen meist in Kleingruppen zusammen. Die Menge wirkt überschaubar, zusammengewürfelt. Die Medien werden von 100 Zuhörern berichten. Und vermutlich waren zu keinem Zeitpunkt mehr Menschen auf einmal auf der Veranstaltung. Dafür ist der Durchlauf gewaltig. In Summe werden gut 1.000 Leute an der „Langen Nacht“ teilgenommen haben, schätzen die Veranstalter.

Die Verweildauer bloßer Zuhörer ist gering. Kaum jemand hält es länger als eine Stunde aus, wenn er oder sie kein Gewaltbetroffener ist oder irgendwie zum Veranstalterkreis gehört. Betroffene erzählen auf der Bühne, was sie erlebt haben. „Ich habe die Clearing-Phase der Klasnic-Kommission durchlaufen und bin alleine gelassen worden“, schildert eine heute 50-jährige Frau. „Da werden die Wunden wieder aufgemacht und nachher kriegst du nicht sofort Therapie. Ich denke ständig daran, mich umzubringen und meine Ehe steht auf dem Spiel“. Ein Lehrer hatte die Frau im Alter von 11 Jahren vergewaltigt und geschwängert. Er bekam eine bedingte Haftstrafe und durfte sie im Alter von 14 Jahren sogar heiraten. Es dauerte Jahrzehnte, bis sie sich von Mann und Trauma lösen konnte und neues Glück fand. Es sind viele derartige Geschichten, die heute erzählt werden. Manche Betroffene stehe selbst auf der Bühne, manchmal lesen Schauspielerinnen und Schauspieler die Texte. Zur ersten Kategorie gehört Herby Loitsch, Radio-Orange-Sendungsgestalter und Aktivist in der Plattform Betroffener Kirchlicher Gewalt. Er erklärt, warum gerade Betroffene das Volksbegehren unterstützen. Er hofft, dass es eine staatliche Kommission erzwingt, die den Skandal untersucht. „Wir dürfen nicht darauf warten, dass Opfer sich trauen oder die Kraft haben, sich zu melden. Wir müssen Druck machen.“ Die Glocken des Stephansdom läuten und machen es den Menschen auf der Bühne kurzfristig schwer, sich verständlich zu machen. Kein Störmanöver. Sie läuten immer 15 Minuten vor der vollen Stunde.

Kakanische Irrwitzigkeiten

Gerhard Engelmayr vom Freidenkerbund zeigt sich sichtlich betroffen, von dem, was er heute gehört hat. Er prangert an, dass trotz allem kaum jemand die Privilegien von Religionsgemeinschaften im allgemeinen und der katholischen Kirche im besonderen anprangert: „In unserem Kakanien haben wir es dank der Religionen zu vielen Irrwitzigkeiten gebracht. Im ORF wurden die Hauptabteilung Wissenschaft und die Hauptabteilung Religion einem gemeinsamen Leiter unterstellt. Jetzt raten Sie mal, wer wem unterstellt ist. Richtig. Die Wissenschaft ist der Religion untergeordnet.“ Dagegen müsse man aufstehen. Ähnlich Niko Alm, Mitinitiator des Volksbegehrens und Vorsitzender des Zentralrats der Konfessionsfreien: „Die Privilegien von Religionen sind durch nichts zu rechtfertigen. Und je mehr an Gewalttaten gegen Kinder bekannt wird, desto lauter müsste eigentlich der Aufschrei sein. Aber selbst mit zwei Millionen konfessionsfreien Österreicherinnen und Österreichern traut sich die Politik nicht, das Konkordat zu thematisieren, das im Austrofaschismus abgeschlossen wurde und traut sich nicht, über die finanziellen Zuwendungen und Steuerbefreiungen zu reden, die den Religionsgemeinschaften mindestens eine Milliarde Euro jährlich bringen. Wir vermuten, dass es in Wahrheit doppelt so viel ist.“

„Ist das für oder gegen die Kirche“, fragt die etwa 80-jährige Frau mit rot-kariertem Bäurinnenkopftuch. „Weder noch. Hier geht’s darum, dass Kirche und Staat getrennt werden sollen.“ „Also doch gegen die Kirche. Und sowas vor dem Stephansdom. Die Kirche ist das einzige, was uns vor den Grauslichkeiten dieser Welt schützt. Ihr seid’s so blöd.“ „Sie können ja auch wieder gehen“. „Gern, oder glaubt’s ihr, ich schau mir gern so schiache Leit (hässliche Menschen, Anm.) an wie Euch?“ Die Störaktionen einzelner älterer Katholiken wirken eher erratisch. Kleriker oder gar offizielle Vertreter der Erzdiözese Wien tauchen heute Nacht nicht auf. Trotz Einladung durch die Veranstalter. Am besten ignorieren und hoffen, dass es vorbeigeht, scheint die Devise zu sein. Die Polizei verhält sich sehr kooperativ. Es gibt nur eine Anzeige wegen eines Autos, das angeblich nicht genehmigt gewesen sei.

Prominente Unterstützer

Dagegen arbeiten Künstler wie Gerhard Haderer, der wegen eines Karikaturenbuchs in Griechenland zu einer Haftstrafe verurteilt worden war – wegen Herabwürdigung religiöser Lehren, derer ihn auch die katholische Kirche in Österreich geziehen hatte. Dass er in zweiter Instanz freigesprochen wurde, ist ein Glücksfall. Seine Distanz zu den Privilegien organisierter Religion mindert das nicht. „Meine Frau und ich haben unsere Kinder – eines schöner als das andere, die sind ganz nach ihr geraten – von der Religion ferngehalten. In Österreich ist das eine Leistung“, sagt der Oberösterreicher, der sich in seiner Ansprache auf die Tradition der Aufklärung beruft. Jetzt gelte es, die demokratische Idee voranzutreiben. „Dieses Volksbegehren hat noch Platz für Ihre Unterschrift. Unterschreiben Sie für die Weiterentwicklung der Demokratie“. Der bekannte Schauspieler und Kabarettist Erwin Steinhauer unterstützt die Bewegung mit einem Text von Erich Fried, den er vorliest. Und Kabarettist Leo Lukas erzählt von seinen Kindheitserfahrungen mit der katholischen Kirche. Das Lachen bleibt im Halse stecken.

Deutliche Ansagen aus der Spitzenpolitik

Auch der „Club Schrei“ sorgt nicht für Heiterkeit. Der Name ist angelehnt an das ORF-Diskussionsformat „Club Zwei“. Unter der Leitung von Radiojournalistin Teresa Arrieta diskutieren Sepp Rothwangl, Niko Alm, die Betroffenen-Anwältin Vera Weld und die Nationalratsabgeordneten Daniela Musiol (Die Grünen) und Hannes Jarolim (SPÖ). Im Zentrum steht die Frage, warum es bis heute keine unabhängige Kommission gibt, die den Missbrauchsskandal untersucht. Jarolim, der sich als einer von wenigen Sozialdemokraten klar für eine Kommission ausgesprochen hatte, erklärt das mit der Tatsache, dass es eine Koalitionsregierung gibt. „Ich habe noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten. Eine solche Kommission ist notwendig – man kann von einem Opfer nicht erwarten, dass er zu einer kircheneigenen Kommission geht. Also just zu der Einrichtung, die sein Leiden ausgelöst hat“ Musiol sieht es ähnlich und verweist auf einen Antrag, den die Grünen im Nationalrat eingebracht haben. „Wir haben einen Hilfefonds für Opfer in der Höhe von 100 Millionen Euro vorgeschlagen. Auf Basis der damals bekannten Zahlen gingen wir von mindestens 40.000 Euro pro Opfer aus. Heute wäre diese Zahl noch höher.“ Allerdings, zeigen sich die Teilnehmer einig, die heute bekannte Opferzahl dürfte nur ein Bruchteil der wirklich Betroffenen sein.

Für österreichische Verhältnisse ungewöhnlich deutlich zeigen sich beide Abgeordnete in der Frage, ob die Republik Österreich das Konkordat mit dem Heiligen Stuhl beibehalten sollte. „Ich brauche das nicht“, sagt Jarolim – und vertritt damit eine klare Minderheitenposition in der eigenen Partei, wie er einräumt. Auch Musiol ist sich nicht sicher, ob alle Grünen bei ihr seien, wenn sie die Abschaffung des Konkordats fordert: „Wir sind eine sehr heterogene Partei und ich kann nicht ausschließen, dass es vor allem bei den Landesparteien Grüne gibt, die das anders sehen.“ In beiden Parteien ist diese Frage bislang eher ausgeklammert worden.

Mittlerweile haben sich die Zuhörer auf einen harten Kern reduziert. Es ist Mitternacht und die sommerliche Wärme dieses Oktobertags ist der Kühle einer typischen Herbstnacht gewichen. Wenig später wird es zu regnen beginnen. Die Betroffenen-Initiativen klappen ihre Stände zusammen. Am Stand des Volksbegehrens macht die Anspannung des Tages einer Erschöpfung Platz. Müdigkeit überwiegt. Nur Sepp Rothwangl ist aufgekratzt. „Das ist super gelaufen heute, das war großartig.“ Der Notar ist schon lange zuhause. Er hat heute 180 Unterschriften bekommen. Mehr als bei irgendeiner anderen Aktion des Volksbegehrens bislang. „Mehr Unterschriften gingen in der Zeit einfach nicht. Mit einem zweiten Notar wären es noch mehr gewesen“, sagt ein Aktivist. „Nur den konnten wir uns leider nicht leisten.“

Christoph Baumgarten