Burkas sind keine religiöse Pflicht
Der Ministerrat seinerseits vertrat die Auffassung, dass der Verweis der Klägerinne auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte irrelevant sei, da sie aus dem Fall Leyla Sahin in der Türkei vom 10. November 2005 abgeleitet sei. Dabei handelte es sich jedoch darum, zu prüfen, ob es einen Eingriff in die Freiheit der religiösen Meinungsäußerung gab. In dem vorliegenden Fall hingegen gehe es darum, ob die klagenden Parteien einen gravierenden Nachteil erlitten, wodurch sie sehr außergewöhnliche Maßnahmen beanspruchen könnten, nämlich die Aussetzung eines Gesetzes. Die Kläger könnten jedoch nicht nachweisen, dass das Tragen des kompletten Gesichtsschleiers eine grundlegende Anforderung der islamischen Religion sei, die ihnen nicht erlauben würde, auf legitime Weise von der Einhaltung dieser Vorschrift freigestellt zu werden, um das Strafrecht eines demokratischen Rechtsstaats zu respektieren.
Der Ministerrat unterstreicht dabei, dass die Freiheit der Religion und vor allem die Freiheit, seine religiösen Überzeugungen auszudrücken, nicht absolut seien. In der Tat könne der Gesetzgeber sie unter bestimmten Bedingungen einschränken. Je multikultureller eine Gesellschaft sei und je mehr Formen des religiösen Lebens und der philosophischen Überzeugungen koexistierten, desto mehr müssten die durch Glauben inspirierten Personen gewährleisten, dies nicht auf übermäßige oder ostentative Weise auf öffentlichen Plätzen zu äußern. Die Burka und der Niqab liefen unseren demokratischen Werten und Traditionen zu sehr zuwider, weil sie es praktisch unmöglich machten, eine soziale Bindung zu schaffen, aber auch, da sie Ausdruck einer Geisteshaltung seien, welche die Gleichstellung von Männern und Frauen und die Würde der Frau infrage stelle.
Die parlamentarischen Vorbereitung des Gesetzes zeigte, dass das Verbot im Wesentlichen auf zwei Überlegungen basiert: den Interessen der öffentlichen Sicherheit bzw. der Rechtssicherheit sowie sozialen Erwägungen, die für das Zusammenleben in einer emanzipierten Gesellschaft, welche die Rechte aller Menschen schützt, unverzichtbar sind.
Was das Argument der notwendigen Identifizierung von Personen angeht, wird darauf hingewiesen, dass diese sich nicht auf Personenkontrollen durch die Polizei beschränkt. Die Identifizierung einer Person, die ein Verbrechen begangen hat oder erlebt, ist auch eine Frage der anderen Bürger (Opfer, Zuschauer), die, wenn sie das Gesicht des Täters des Verbrechens gesehen haben, den Justizbehörden Informationen liefern könnten, um den Täter zu entlarven.
Insgesamt schlussfolgert der Ministerrat, dass die Überlegungen der Antragsteller nicht nachweisen können, dass die sofortige Umsetzung des angefochtenen Gesetzes ihnen schwer zu behebenden erheblichen Schaden zuführen würde. Es sei nicht sicher, dass das Tragen des kompletten Gesichtsschleiers eine religiöse Pflicht sei, die sich aus einem Gebot der Koran, oder mehr allgemein aus einer Anforderung der islamischen Religion ergebe.
Das Urteil: Zunächst ist das Gesetz verfassungskonform
Die Argumentation des Urteils des Verfassungsgerichtes bleibt auf dem Hintergrund der komplexen Argumentation der Konfliktparteien formell juristisch und meidet leider jede gesellschaftliche Interpretation des Sachverhaltes. Nach ihr müssen zwei grundlegende Bedingungen erfüllt sein, bevor die Aussetzung angenommen werden kann:
- es müssen gravierende Rechtsmittel beigebracht werden;
- die sofortige Umsetzung der angefochtenen Regel muss einen schwer zu korrigierenden ernsthaften Schaden anrichten.
Um der zweiten Voraussetzung Genüge zu tun, sollte die klagende Person in ihrem Antrag konkrete und präzise Fakten darstellen, die den Schaden ausreichend belegen. Das Gericht meint aber, dass dann, wenn die ersuchende Partei vor den Strafgerichten angeklagt wird, sie immer noch den Richter ersuchen kann, dem Gerichtshof eine vorläufige Frage nach der juristischen Übereinstimmung des neuen Artikel 563 StGB mit den verfassungsrechtlichen Bestimmungen zu stellen. Eine eventuelle Bestrafung durch ein Strafgericht kann dann immer noch annulliert werden. Die Gefahr eines schwer zu reparierenden Schadens besteht also nicht bei der Hypothese einer möglichen Anklage vor dem Strafgericht.
Nach dem Verfassungsgericht zeigen die Eingabe und die Plädoyers, dass, obwohl die Kläger behaupten, den kompletten Gesichtsschleier aus persönlicher Überzeugung zu tragen, in einigen Fällen von diesem Ausdruck ihres Glaubens abgewichen werden kann. Sie zeigten während der begrenzten Dauer des Verfahrens vor dem Gerichtshof nicht, aus welchen Gründen sie eine solche Abweichung nicht akzeptieren könnten. Da die Bedingung im Zusammenhang mit dem schwer wieder gut zu machenden Schaden nicht erfüllt ist, braucht das Gericht kein Urteil über die Schwere der Rechtsmittel zu fällen. Aus diesen Gründen lehnt das Gericht den Antrag auf Aussetzung ab. Die Entscheidung bestätigt zwar zunächst die Verfassungskonformität des Burka- und Niqabverbotes in Belgien, lässt aber auf Grundlage der rein formellen Begründung der Ablehnung Raum für weitere Vorstöße der Islamisten.
Rudy Mondelaers