„Eine neue Geschichte der Menschheit“

(hpd) Der US-amerikanische Psychologe Steven Pinker legt eine Studie von über 1000 Seiten vor, worin die tendenzielle Abnahme der Gewalt im historischen Verlauf konstatiert und nach den Bedingungsfaktoren dafür gefragt wird. Es handelt sich um eine beeindruckende Arbeit, die eine Fülle unterschiedlichen Materials nutzt und ohne „Schönschreibung“ gegen weit verbreitete kulturpessimistische Deutungen der Geschichte der Menschheit anargumentiert.

Wer Medienberichte von brutalen Übergriffen auf Normalbürger im Alltagsleben zur Kenntnis nimmt, ist regelmäßig über die sinkenden Anteile von Gewalttaten in der Kriminalitätsstatistik irritiert. Wer die Massenverbrechen des Nationalsozialismus und Stalinismus im 20. Jahrhundert in Erinnerung hat, wird ebenso irritiert über Behauptungen von einem tendenziellen Rückgang der Gewalt im historischen Verlauf sein. Gleichwohl ist dem so, wie der Psychologe Steven Pinker von der Harvard University in einer voluminösen Studie von über 1000 Seiten unter dem Titel „Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit“ aufzeigt. Bereits zu deren Beginn formuliert er seine wesentlichen Erkenntnisse: „Die Gewalt ist über lange Zeiträume immer weiter zurückgegangen, und heute dürften wir in der friedlichsten Epoche leben, seit unsere Spezies existiert“ (S. 11). Was hier wie eine „Schönschreibung“ der Gegenwart klingt, lässt sich gleichwohl mittels einer vergleichenden Betrachtung des historischen Verlaufs unterschiedlicher Gewalthandlungen belegen.

Pinker bedient sich dazu folgender Methode: Er rechnet frühere Kriege, Massaker und Morde jeweils bezogen auf die heutigen Bevölkerungszahlen hoch und nimmt dann eine vergleichende Betrachtung vor. Hierbei zeigt sich etwa, dass zwar im Zweiten Weltkrieg quantitativ betrachtet die meisten Menschen umkamen, aber bei früheren Ereignissen wie den Mongolischen Eroberungen im 13. Jahrhundert die Todesraten im Vergleich zur damaligen Bevölkerungszahl um ein Vielfaches höher lagen (vgl. S. 298). Das Gleiche macht Pinker anhand von vergleichenden Betrachtungen der Mordquote in europäischen Ländern zwischen dem 14. und 20. Jahrhundert und der Mordrate in New York zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert deutlich. In der historischen Gesamtschau lässt sich ein Trend zur Abnahme der Gewaltanwendung ausmachen, was nicht phasenweise Gegenentwicklungen ausschließt. Pinker spricht hier von „Rückschlägen“, die etwa anhand einer Entzivilisation in den 1960er Jahren konstatiert, aber in den 1990er Jahren wieder überwunden werden konnte.

Anhaltender moralischer Trend war ein Humanismus, der Gewalt ablehnt

Ähnliches macht der Autor für die Ära der totalitären Diktaturen aus: „Der anhaltende moralische Trend des Jahrhunderts war ein Humanismus, der Gewalt ablehnte und seinen Ursprung in der Aufklärung hatte. Dieser Trend wurde von gegenaufklärerischen Ideologien überschattet, die sich mit Waffen von immer größerer Zerstörungswirkung verbanden. Im Gefolge des Zweiten Weltkrieges gewann er aber wieder an Gewicht“ (S. 295).

Pinker beschränkt sich nicht nur darauf, diese Grundlinie der historischen Entwicklung zu belegen. Er fragt immer wieder auch nach den Bedingungsfaktoren, welche den Rückgang der Gewalt in den Gesellschaften erklären. Hierbei verweist der Autor etwa auf die Etablierung des modernen Staates mit dem Gewaltmonopol, ohne aber dessen Missbrauch zu intensiver Unterdrückung zu leugnen. Ohnehin ist für ihn in diesem Sinne nach der Durchsetzung eines gewissen Maßes an Zivilisation die Vernunft viel bedeutsamer, bietet sie doch „die größte Hoffnung auf eine weitere Verminderung von Gewalt“ (S. 992).

Pinker legt mit seiner Studie nicht nur eine vom Umfang her gewichtige Arbeit zu einem bedeutenden Thema vor. Er beeindruckt auch nicht nur durch die Breite der thematischen Anlage, was mitunter zu kleineren Schiefen in der Darstellung führt, welche aber keine gewichtigen Einwände motivieren können. Darüber hinaus korrigiert der Autor auch gut abgesichert die weit verbreitete kulturpessimistische Annahme eines moralischen Niedergangs der menschlichen Gesellschaft.

Aus seiner Darstellung, die auch bedeutsame Bedingungsfaktoren für die Abnahme der Gewalt benennt, lassen sich wichtige Erkenntnisse für die Ausrichtung von Gesellschaft und Politik gewinnen. Gerade hierin liegen die beeindruckenden Stärken der Arbeit. Kritisch anzumerken wäre gleichwohl, dass Gewalt auch eine qualitative und nicht nur eine quantitative Ebene hat. So fanden Judenverfolgung und –vernichtung gerade in einem rechtsstaatlich und zivilisatorisch geprägten Land statt, was Pinker in seiner historischen Gesamtschau gerade nicht näher thematisiert.

Armin Pfahl-Traughber

 

Steven Pinker, Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit. Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel, Frankfurt/M. 2011 (S. Fischer-Verlag), 1212 S., 26 €