Die dunkle Seite der Nationalstaaten

(hpd) Der Historiker Philipp Ther deutet „‚Ethnische Säuberungen’ im modernen Europa“ als Konsequenz von nationalen Homogenitätsvorstellungen. Da sein Werk nicht nur historisch-beschreibend, sondern auch analytisch-typologisierend angelegt ist, hebt es sich wohltuend von ähnlichen Werken mit einer Beschränkung auf die Darstellung ab.

Das 20. Jahrhundert war einerseits von einer Ausweitung von Demokratie und Menschenrechten und andererseits von Massenverbrechen wie Genoziden und Säuberungen geprägt. Die letzten beiden Begriffe finden häufig eine synonyme Verwendung, gleichwohl bestehen wichtige Unterschiede. Darauf macht der Historiker Philipp Ther, Professor für Geschichte Ostmitteleuropas an der Universität Wien, in seiner Studie „Die dunkle Seite der Nationalstaaten. ‚Ethnische Säuberungen’ im modernen Europa“ aufmerksam: Deren primäre Zielsetzung bestehe in der systematischen Entfernung einer Bevölkerungsgruppe aus einem bestimmten Gebiet. Ein Genozid beabsichtigt im Unterschied dazu die existentielle und nicht nur die örtliche Entfernung von Menschen, geht es hierbei doch in erster Linie um die Ermordung von Minderheiten. Das eigentliche Anliegen von Ther artikuliert sich aber in folgender These: „Ethnische Säuberungen sind ein Kind des Nationalstaats und damit ein zentraler Bestandteil der europäischen Moderne“ (S. 7).

Eine häufig gewalttätig verlaufende und systematisch organisierte dauerhafte Zwangsaussiedlung einer Gruppe von Menschen, die durch ihre Ethnizität, Nationalität oder Religion definiert wird, sei aus historisch-politischer Sicht ein modernes Phänomen. Der Autor bringt die „ethnischen Säuberungen“ daher in einen geschichtlichen und inhaltlichen Kontext mit der Entstehung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert. In deren Folge seien auch Auffassungen von der ethnischen Homogenität der Gesellschaften aufgekommen, die sich dann auch gegen Minderheiten richteten. Demgemäß geht es Ther bei den Voraussetzungen für „ethnische Säuberungen“ um die „Folgen der Nationalstaatsbildung, die Radikalisierung des Nationalismus, die zunehmend destruktiven Einstellungen gegenüber Minderheiten, die Bevölkerungspolitik verschiedener Regimes und den Komplex der europäischen Moderne“ (S. 70). Hinzu kam eine Eigendynamik, die von der Eskalation von Gewalt sowie durch neue Fluchtbewegungen und Konflikte geprägt gewesen sei.

All dies verdeutlicht der Autor in seiner Arbeit anhand von historisch-politischen Beispielen, die in vier Perioden der Entwicklungsgeschichte des 20. Jahrhunderts eingeteilt wurden: Zunächst geht es um die ethnischen Säuberungen als Mittel der internationalen Politik insbesondere in Südosteuropa zwischen 1912 und 1925. Dem folgen Ausführungen zu totalem Krieg und totalen Säuberungen vor allem in den von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten zwischen 1938 und 1944. Danach widmet sich der Autor den Vertreibungen von Deutschen aus osteuropäischen Ländern gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zwischen 1944 und 1948. Und schließlich stehen noch die „ethnischen Säuberungen“ im ehemaligen Jugoslawien zwischen 1919 und 1999 im Zentrum des Interesses. Das Schicksal der europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg findet nur in einem Exkurs inhaltliche Erwähnung, handele es sich hierbei doch um einen beabsichtigten Genozid und Massenmord und nicht nur um eine geplante Umsiedlung und Vertreibung.

Thers Arbeit zu den „ethnischen Säuberungen“ beschränkt sich nicht nur darauf, einschlägige Ereignisse aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts wieder in Erinnerung zu rufen. Sein Buch ist auch in hohem Maße durch analytische und typologische Gesichtspunkte geprägt. Dies macht bereits der erste Teil mit den Ausführungen zur Bedeutung nationaler Homogenitätsvorstellungen deutlich.

Manchmal wird es zwar ideengeschichtlich etwas schief, wofür etwa der Hinweis auf den Einfluss des Darwinismus (vgl. S. 31) steht. Gleichwohl können seine Äußerungen zu den Voraussetzungen „ethnischer Säuberungen“ durchaus überzeugen. Bezüglich des Komplexes der europäischen Moderne wäre aber auch der Hinweis wichtig gewesen, dass die Entwicklungen im Bereich der statistischen Erfassung von Nationalitäten zwar Voraussetzungen für das spätere Vorgehen darstellten. Aus ihnen ergab sich aber nicht die inhaltliche Notwendigkeit in diese Richtung zu gehen, worin ein Unterschied zu den nationalen Homogenitätsvorstellungen besteht.

Armin Pfahl-Traughber
 

Philipp Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten. „Ethnische Säuberungen“ im modernen Europa, Göttingen 2011 (Vandenhoeck & Ruprecht), 304 S., EUR 39,95.