Moralmaschine Religion?

Nach der Ansicht von Ahn seien Gewalt- bzw. Friedenspotenziale nicht einer bestimmten Religion zuschreibbar; keine Religion sei eo ipso gewalt- oder friedfertig. Schockenhoff erwähnte nochmals seinen Standpunkt, in der Moral sei ein nichtrelativer Anteil vorhanden. Er gab zu, dass z.B. die Genitalverstümmelung zu manchen Kulturen dazugehöre oder die Grundrechte im chinesischen Konfuzianismus anders als bei uns ausgelegt würden. Aber trotz aller Unterschiede bestünden Gemeinsamkeiten des Menschseins, müsse der Anspruch auf eine gewisse Universalität vertreten werden. Und zum Gewaltpotenzial des ersten Gebots, zu dem exklusiven Anspruch des biblischen Gottes, führte er noch aus, wie die „anderen Götter“ heutzutage interpretiert werden müssten, beispielsweise in puncto materieller Besitz oder das Geschehen an den Finanzmärkten. Das erste Gebot wolle ganz allgemein übertriebene Machtansprüche und Eigeninteressen relativieren. Der normative Alleinanspruch des Christentums würde sich vor allem am Leben Jesu orientieren; das bedeute Nächstenliebe, Feindesliebe und Friedensliebe bis in den Tod.

In der nun folgenden Publikumsdiskussion kritisierte ein Zuschauer zunächst die automatische Zuweisung von Gewalt oder Friedfertigkeit zu den Religionen, vor allem zu den Koranversen. Zwar habe sich der Islam in einer langen Tradition mit Feuer und Schwert ausgebreitet, aber nicht alle Muslime verträten den Dschihad als den Heiligen Krieg. Es seien einzelne Menschen, die fälschlicherweise unter Berufung auf religiöse Inhalte so handelten. Dem pflichtete Ahn bei. Sowohl Gewalt als auch Friedfertigkeit seien beide den religiösen Schriften zu entnehmen, aber in der einen oder anderen Richtung handeln würden allein die unterschiedlichen Menschen.

Eine Dame aus dem Publikum wies nochmals nachdrücklich darauf hin, dass die Säuglingstaufe grundsätzlich dem Menschenrecht auf Religionsfreiheit widerspräche. Dabei würden unmündige Kleinkinder ohne ihre Einwilligung zu Zwangsmitgliedern in einer Kirche gemacht. Schockenhoff räumte dazu ein, die Unmündigentaufe widerspräche zwar dem Recht des Kindes auf negative Religionsfreiheit, aber in der Familie sei eine gänzlich neutrale Atmosphäre nicht herzustellen. Die Eltern wollten eben ihr Kind mit Liebe begleiten, in der Hoffnung, dass sich ihr Kind später selbst richtig entscheide. Ahn warf ein, in der Familie sei prinzipiell kein Standpunkt der Ungebundenheit möglich; das bedeute immer eine gewisse Vorprägung. Dem widersprach die Dame mit der Bemerkung, die Rituale an sich erschienen zwar legitim, aber nicht die damit verbundene Zwangsmitgliedschaft, mit der das Kind unrechtmäßig vereinnahmt werde.

Ein Zuhörer gab zu bedenken, man brauche nicht die Unterscheidung in gute oder schlechte Moral oder Menschen. Es reiche vollkommen aus, jedes Lebewesen mitfühlend zu betrachten, auch den Menschen einfach als leidensfähiges Tierlebewesen zu verstehen. Ein anderer fragte sich: „Wenn es einen Schöpfer gäbe, so kümmerte er sich doch wohl auch von sich aus um die gute Zukunft seiner Menschheit. Was sagen die Religionen dazu? Es werden Rohstoffkämpfe kommen. Wo bleibt die Umweltethik, die Menschheitsethik?“ Und ein Beitrag aus dem Publikum zu der behaupteten Absolutheitseigenschaft von Moral: „Warum diskutieren wir dann überhaupt über Moral, wenn sie doch angeblich absolut sein soll?“

Hier schaltete sich die Moderatorin in Richtung Schlusswort ein und zitierte Schopenhauer mit „Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer.“ Sie sehe eine Chance, die Weltfragen im Rahmen eines Ethikrates in den Griff zu bekommen. Schockenhoff sieht noch eine Chance darin, dass die Wähler die Zukunft der Menschheit zu ihrem wahlentscheidenden Kriterium erheben, und so politisch auch international Einfluss ausüben könnten.

Gebhard Stadler