„Ich sehe da ganz viel Bewegung“

BERLIN. (hpd) Am vergangenen Donnerstag beschloss eine Mehrheit im Deutschen Bundestag in einer symbolischen Resolution, dass es auch zukünftig ein Recht zur Beschneidung geben soll. Nils Opitz-Leifheit, Sprecher der SPD-Laizisten, sprach im hpd-Interview über das Votum seiner Fraktion, die Kindertaufe und Warnungen vor einem radikalen Säkularismus.

hpd: Der Bundestag hat in der letzten Woche mit Stimmen der christlich-liberalen Regierungskoalition, SPD und Grünen die Entwicklung eines Gesetzesentwurfes beschlossen, mit dem verbindlich klargestellt werden soll, dass auch in Zukunft eine medizinisch fachgerechte Beschneidung von Jungen ohne unnötige Schmerzen grundsätzlich zulässig sein soll. Entspricht das Votum der SPD-Abgeordneten dem Willen der Mehrheit der Genossinnen und Genossen?

Nils Opitz-Leifheit: Die Marschrichtung war so schnell und reflexhaft von der Parteispitze angekündigt worden, dass eine gründliche Meinungsfindung in der SPD-Bundestagsfraktion gar nicht stattgefunden haben kann. Zudem war der Bundestag nur ganz mäßig besetzt und gerade so beschlussfähig. Aus meiner Sicht ist es zumindest fraglich, ob die Fraktion wirklich hinter diesem Antrag stand und auch künftig diesen Kurs mitträgt. Es wäre traurig, wenn die meisten SPD-Parlamentarier die Forderungen von Religionsgemeinschaften nach Beibehaltung ihrer kinderfeindlichen Riten und das Elternrecht höher gewichteten als die Grundrechte der Kinder auf körperliche Unversehrtheit und ihre Religionsfreiheit.

Wieder einmal zeigt sich, dass die Parteiführung einseitig religionsfixiert ist. Das entspricht weder der Bevölkerungsmehrheit noch der SPD-Mitgliedschaft. Früher waren wir einmal die Partei der Aufklärung und des gesellschaftlichen Fortschritts. Das verspielt die derzeitige Parteispitze mit solchem Handeln mehr und mehr.
 

Aydan Özoguz, die künftige stellvertretende SPD-Vorsitzende, hatte im Vorfeld in einer offiziellen Erklärung gemeint, die Kritik an einer gesetzlichen Straffreistellung sei inakzeptabel. Woher rühren solche Versuche der Parteispitze, den Mitgliedern der Partei Maulkörbe zu verpassen?

Opitz-Leifheit: Ob es ein Maulkorb sein sollte oder eine Verzweiflungstat war, kann ich nicht beurteilen. Ich kenne viele Genossinnen und Genossen mit Migrationshintergrund, die anders als Frau Özoguz zugleich sehr modern und aufgeklärt sind. Aydan Özoguz sollte sich ein Beispiel am muslimischen integrationspolitischen Sprecher der Grünen, Memet Kilic, nehmen. Der ist schon im 21. Jahrhundert angekommen und geht differenziert und nachdenklich mit dem Urteil um.

Ich glaube, Frau Özoguz hat sich noch gar nicht tiefgehend mit der Thematik befasst, sonst wüsste sie vielleicht, dass man am Ende dieser schiefen Bahn aus Gründen der Gleichbehandlung auch die milderen Formen der Mädchenbeschneidung, bei denen die Schamlippen beschnitten werden und die Klitoris belassen wird, dulden müsste.
 

Warum sollte denn aus laizistischer und sozialdemokratischer Sicht auch eine Beschneidung von Jungen nicht möglich sein, wenn sie medizinisch fachgerecht und ohne unnötige Schmerzen durchgeführt wird?

Opitz-Leifheit: Der Beschluss ist doch unsinnig, was mir gestern auch ein Arzt bestätigte: „Unnötig“ sind Schmerzen, wenn sie aus anderen als medizinischen Gründen zugefügt werden. Und rituelle Beschneidungen sind schließlich vermeidbar und auf das Erwachsenenalter verschiebbar.

Sonst wären Schmerzzufügung, Misshandlung und Körperverletzung – und davon reden wir hier im juristischen Sinne – aus religiösen Gründen ja „nötig“. Wenn religiöse oder ähnliche Gründe als „nötig“ anerkannt werden, dann gilt das auch für die Mädchenbeschneidung, die Prügelstrafe, die Zwangsverheiratung Minderjähriger oder die Jungenbeschneidung  zur Erschwerung der Masturbation, wie man das in den USA und England lange praktizierte. Für all das finden sich viele Menschen, die das „nötig“ finden und sicherlich auch heilige Bücher, die das verlangen.

Bei der im Islam verbreiteten Beschneidung im Schulkinderalter frage ich mich ehrlich gesagt auch, ob bei diesen Zeremonien vor zahllosen Leuten nicht auch die Menschenwürde der Jungen unerträglich verletzt wird. Viele schildern, dass sie dieses Ritual als ganz schrecklich und erniedrigend empfunden haben, auch wenn sie später vielleicht stolz darauf zurückblicken und es mit ihren Söhnen genauso halten.
 

Und welche Motive stecken nun möglicherweise hinter den anderslautenden Voten in der SPD?

Opitz-Leifheit: Ganz besonders haben die Kinder- und Jugendpolitiker der SPD-Fraktion gegen diesen Beschluss gekämpft und natürlich unsere UnterstützerInnen in der Fraktion wie Rolf Schwanitz. Ihnen allen gilt das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit schlicht höher als die Religionsfreiheit und das Erziehungsrecht der Eltern.

Andere, wie Manuela Schwesig, haben sich noch vor wenig Wochen großspurig und medial inszeniert für die Kindergrundrechte eingesetzt, um sie nun mit verschwurbelten Argumenten den Religionstraditionalisten zu opfern. Wie viel Achtung soll man für solch einen „Einsatz für die Kinder“ eigentlich noch aufbringen? Wolfgang Thierse hat uns in einer plumpen Weise einmal unterstellt, wir wollten das Grundgesetz ändern – obwohl er genau weiß, dass wir eben die grundgesetzlich verbriefte weltanschauliche Neutralität des Staates einfordern. Nun wollen diese großartigen Hüter des Grundgesetzes die wichtigsten Grundrechte der Kinder heiligen Bräuchen opfern. Ganz offenbar werden sie auch versuchen, dazu das Grundgesetz zu ändern, wenn eine einfache Gesetzesänderung dazu nicht ausreicht. Ich gebe deshalb die Frage gern an ihn zurück, wer hier bezüglich unserer Verfassung die unsicheren Kantonisten sind.
 

Was sagen Sie zu Vorwürfen, laut denen dahinter ein radikaler Säkularismus steckt, der die vorhandenen Gesetze zum Kampf gegen den gesellschaftlichen Einfluss von Religion benutzen will.

Opitz-Leifheit: Man muss doch ziemlich verdreht sein, um so etwas zu konstruieren. Das hieße ja, böse Menschen missbrauchen das Grundgesetz, um „höher stehende“ religiöse Gesetze zurückzudrängen. Diese „bösen Menschen“ sind Richter und Juraprofessoren, die breite Mehrheit der Mediziner, Kinderschutzorganisationen, der Bund der Kriminalbeamten, übrigens auch Muslime und Juden, die diese Bräuche ablehnen und überwunden haben. Unter solchen „bösen Menschen“ fühle ich mich in der Tat wohler als unter denen, die wegen überirdischer Befehle an den Genitalien von Kindern herum schneiden. Muss man sich irgendwann dafür entschuldigen, dass man die unveräußerlichen Menschenrechte und das Grundgesetz zum Maßstab seiner Beurteilung macht?

Selbstverständlich soll jede und jeder frei seine Religion ausüben, aber das geht nur innerhalb der geltenden Gesetze und nicht auf Kosten anderer. Wer volljährig ist, soll sich beschneiden lassen, wie er will, Kinder jedoch können dies nicht selbst entscheiden.
 

Wie sehen Sie eigentlich auf die teilweise vorhandenen Warnungen, die bei den gegenwärtigen Vorgängen das Aufleben eines neuen Antisemitismus diagnostizieren?

Opitz-Leifheit: Es liegt auf der Hand, dass sich Antisemiten und dumpfe ausländerfeindliche Gruppen durch solche gesellschaftlichen Diskussionen ermuntert fühlen, auf diesen Wellen mit zu reiten. Da hilft nur, differenziert und klar mit dem Thema umzugehen und auch darauf zu achten, dass man ihnen keine Bühne bietet. Da ist es zum Beispiel ganz wichtig, auch auf die Juden in den USA oder auch in Deutschland hinzuweisen, die dieses Ritual nicht mehr praktizieren und zurückdrängen wollen. Hier geht es nicht um Deutsche gegen Moslems oder Juden, wie braune Populisten es vielleicht darstellen, sondern, wie die Diskussion im Bundestag ja gerade zeigt, um den Konflikt zwischen Aufklärung und Moderne auf der einen und Festhalten an voraufklärerischen Riten auf der anderen Seite. Es geht um die große Frage, ob für unser Zusammenleben die demokratisch legitimierten Gesetze und Grundrechte die höchsten Regeln festsetzen, oder heilige Schriften und Überlieferungen aus der Zeit noch vor dem Mittelalter.
 

Stehen Sie eigentlich auch in Kontakt zu Angehörigen der jüdischen Gemeinde und halten Sie die scharfe Kritik von Rabbinern und anderen Vertretern für eine repräsentative Auffassung in den Gemeinden?

Opitz-Leifheit: Wir haben, was in der Natur der Sache liegt, uns bislang vor allem mit den beiden großen Kirchen in Deutschland und deren Privilegien und Sonderstellung befasst, weshalb wir auch in erfreulich vielfältigem Kontakt und Dialog mit den Kirchen stehen. Die Diskussion um das Kölner Urteil wird aber natürlich dazu führen, dass wir auch mit Moslems und Juden in Deutschland verstärkt in den Dialog treten werden. Es ist immer besser, miteinander als übereinander zu sprechen.

Selbst in Israel stellte bei einer Umfrage ein beträchtlicher Teil der Eltern die Beschneidung von Jungen in Frage. Warum sollten wir das dann nicht dürfen? Für mich gelten Menschenrechte und Grundgesetz. Von Vorschriften und Verboten von Priestern jenseits unseres Rechtes und egal welcher Religion sollte man sich im 21. Jahrhundert nun wirklich nicht mehr einschüchtern lassen. Die sind Meinungsäußerungen wie jede andere und für mich wiegen die von Fachmedizinern, Rechtswissenschaftlern und Richtern oder auch Psychologen mehr.
 

Was ist nun aus Ihrer Sicht so bedeutend an dem kleinen Stück Haut, für das wir uns laut Kanzlerin zur „Komikernation“ machen könnten?

Opitz-Leifheit: Mancher Frau, die sich gerade eifrig für die Jungenbeschneidung einsetzt, wünsche ich, sich einmal näher damit zu befassen, was da eigentlich gemacht wird und dass die Vorhaut nicht nur „ein überflüssiges Stückchen Haut“ ist, wie das äußere Ende eines Fingernagels, sondern ein extrem empfindlicher Bestandteil und damit erogene Zone des männlichen Sexualorgans, das voller Nerven steckt und die Eichel schützt, die eigentlich ein inneres Organ ist und ebenfalls stark in Mitleidenschaft gezogen wird. Als Biologe kann ich nur immer wieder staunen, mit welcher körperfeindlichen Verachtung und welchem Unwissen hier viele meinen, Frauen und Priester voran, die Genitalien sachgrundlos irreversibel beschädigen zu müssen. Vielleicht hätten dem und der einen oder anderen in der Schule etwas mehr Biologie und etwas weniger Bibelkunde gut getan.

Bei Frau Merkel wundere ich mich allerdings nicht. Sie wusste bis vor zwei Jahren ja auch noch nicht, dass Atomkraftwerke gefährlich sind. Bei „Komikernation“ fallen mir nicht schreiende Babys und kleine Jungen ein, denen gerade am Penis herum geschnitten wird, sondern Merkel, Westerwelle, Roth und… ach, lassen wir das.
 

In der aktuellen ZEIT-Beilage „Christ & Welt“ wird bereits diskutiert, ob künftig auch die Kindertaufe wegfallen könnte. Wäre das aus laizistischer Sicht ein Schritt in die richtige Richtung, wenn sogar nichtinvasive Rituale wie die Kindertaufe verschoben werden?

Opitz-Leifheit: Natürlich sollen Eltern ihre Kinder gemäß ihrem Glauben oder Nichtglauben erziehen dürfen. Ich würde das nicht mit der Beschneidungsdiskussion vermengen. Die Taufe, Kommunion, Konfirmation, etc. hinterlassen anders als die Zirkumzision keinerlei Langzeitschäden, schon gar keine körperlichen. Eine angstbestimmte, mit Schuldgefühlen befrachtete und sexualfeindliche religiöse Erziehung kann das natürlich durchaus, so wie jede schlechte Erziehung. 

Allerdings halten wir es durchaus für diskussionswürdig, wie viel einseitige religiöse Erziehung Kinder genießen sollten. Aus unserer Sicht reicht es aber aus, über den Schulunterricht und z.B. einen für alle verbindlichen Ethik- und Religionskundeunterricht sicherzustellen, dass alle Kinder auch einen breiten Überblick über alle Weltanschauungen und Religionen gewinnen und damit auch eine spätere eigene Entscheidung über die eigene Weltanschauung erleichtert wird. Deshalb sind wir gegen die geistige Gettoisierung in einem religiösen Bekenntnisunterricht. Der sollte nur zusätzlich durch die Religionsgemeinschaften gegeben werden dürfen.

Aber das ist wie gesagt eine andere Baustelle als die derzeitige Beschneidungsdiskussion, denn dort geht es vor allem um die körperliche Unversehrtheit von Kindern und Säuglingen versus Religions- und Erziehungsfreiheit.
 

Waren bislang bei den Abgeordneten im Parlament eher festgefahrene Positionen zu beobachten oder glauben Sie, dass sich bis zu einer Abstimmung über so ein Gesetz noch deutliche Veränderungen ergeben könnten?

Opitz-Leifheit: Ich sehe da ganz viel Bewegung, auch über SPD und Bundestag hinaus. Das ganze Thema war ja bisher ein Tabu und wir verdanken es den Richtern im Kölner Landgericht und Leuten wie dem Juraprofessor Holm Putzke, dass nun endlich einmal offen darüber diskutiert wird. Ich selbst war überrascht, dass die religiös motivierte Jungenbeschneidung in Fachkreisen von Medizinern und Juristen längst höchst umstritten ist und mehrheitlich abgelehnt wird, bzw. als Körperverletzung galt. Ein öffentliches Thema war das dennoch nie. Die Religionsgemeinschaften, die das praktizieren, genossen bislang Narrenfreiheit.

Angesichts des demokratisch doch fragwürdigen Durchpeitschens dieses Bundestagsbeschlusses hoffe ich, dass viele MdB nicht reflexhaft ihrer Parteispitze folgen und sich scheinbar auf die Seite von Minderheiten stellen, sondern dass sie sich überhaupt erst einmal schlau machen, welche gravierenden Folgen dieser Eingriff hat und haben kann, welche Gründe dagegen sprechen und welche Grundrechte Kindern zustehen. Und ganz vielleicht findet sich ja auch noch das eine oder andere führende SPD-Mitglied, das mehr auf der Seite der Kinder steht.
 

Herr Opitz-Leifheit, vielen Dank für das Interview.

Nils Opitz-Leifheit ist Diplom-Biologe, Politikberater in Stuttgart und seit 2010 im Bundessprecherkreis der SPD-Laizisten.

Die Fragen stellte Arik Platzek