Der Neue Atheismus ist zwar PR-technisch erfolgreich, aber eine Randerscheinung in der säkularen Szene. Tatsächlich haben die meisten Atheisten gar kein Problem mit Religion. Sollten sie aber.
Die Kuschel-Atheisten
Natürlich sind wir nicht antireligiös. Wir sind nur gegen intolerante Fundamentalisten, die versuchen, uns ihren Glauben aufzuzwingen. Nicht einmal gegen alle davon, sondern nur gegen die Gewalttätigen unter ihnen. Eigentlich sind wir auch gar nicht gegen die Fundamentalisten selbst, sondern nur gegen den Fundamentalismus als Weltanschauung. Wäre jeder ein moderater, liberaler Religiöser, der glaubt, dass am Ende sowieso alle in den Himmel kommen, dann hätten wir diese Auseinandersetzung nicht. Religion mag zwar stets ein wenig irrational sein, abgesehen vom Pantheismus selbstverständlich, aber das ist kein großes Problem und geht uns nichts an. Mit diesen antireligiösen Horden, mit den „Neuen Atheisten“, haben wir nun wirklich nichts am Hut. Sollen die Leute doch glauben was sie wollen, so lange sie sich nicht auf überfüllten Marktplätzen in die Luft sprengen. Vor allem, wenn wir die gerade besuchen.
Ein PR-Gag?
Diese Haltung scheint beinahe Konsens zu sein zwischen Atheisten („wir sind doch keine Atheisten, wir sind Agnostiker“). Lange Zeit bin ich davon ausgegangen, dass das eine Art Marketing-Strategie sein muss. Es kommt eben nicht gut an, wenn man sagt, dass Religion blöde ist und der Gesellschaft schadet. Jedenfalls nicht bei den Religiösen. Auch erreicht man Gläubige schlecht im persönlichen Gespräch, wenn man ihnen erst einmal vorhält, dass sie ihr Leben mit der Auslebung und Propagierung einer bronzezeitlichen Hirtenkultur verschwendet haben. Gewiss. Doch nach und nach musste ich erfahren, dass die oben genannte Haltung gar keine Strategie ist. Diese Mainstream-Atheisten glauben das alles wirklich.
Dabei sollte eigentlich klar sein: Wenn Menschen in den Fantasiewelten ihres jeweiligen Wüstenvolks leben, trägt das wenig zur Lösung unserer realen Probleme bei, selbst wenn sich nicht alle gleich Sprengstoffgürtel umschnallen. Darum ist es die Pflicht der Aufklärung, Mythen und Fantasien an ihren Platz zu verweisen.
Kurze Geschichte des weichgespülten Atheismus
Ideengeschichtlicher Ursprung des herrschenden Atheismus sind ausgerechnet die Philosophen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Thomas Jeffersons berühmter Ausspruch zum Thema lautet: „Es schadet mir nicht, wenn mein Nächster sagt, dass es zwanzig Götter gibt, oder keinen Gott. Es leert mir weder die Taschen, noch bricht es mir das Bein.“ (Notes on the State of Virginia, 1782). Damit stellt er sich in die Tradition von John Lockes Liberalismus, der Kirche und Staat voneinander trennt und Religion zur Privatsache erklärt – die Grundlage unseres liberalen Rechtsstaats. Aber es geht eben nicht nur um Rechte.
Bereits John Locke hatte den leisen Verdacht, dass hier etwas nicht stimmt, etwas sehr viel Grundlegenderes als Steuervorteile für Kirchen und Papsttage im Fernsehen: „Religion, die uns am meisten von den Tieren trennen und uns als Vernunftwesen besonders über die Tiere erhöhen sollte, ist genau der Bereich, in dem die Menschen oft am irrationalsten und noch unvernünftiger erscheinen als Tiere“ (Essay Concerning Human Understanding, 1689).
Warum sollte es uns interessieren, wenn Menschen unvernünftig sind, solange wir selbst diese Unvernunft nicht teilen? John Locke sagte dazu folgendes: „Dem Naturzustand ist ein Naturgesetz zugeordnet, das ihn regiert und das jeden in die Pflicht nimmt: Und die Vernunft, die jenes Gesetz ist, lehrt die ganze Menschheit, insofern sie es nur zu Rate zieht, dass, wenn jeder gleichberechtigt und unabhängig ist, niemand einem anderen Schaden zufügen muss, sei es in Bezug auf Leben, Gesundheit, Freiheit oder Eigentum“ (Second Treatise of Government, Kapitel II, Teil 6, 1692). Wenn man „Naturgesetz“ hier metaphorisch versteht, dann könnte John Locke durchaus recht haben. Wer einer irrationalen Weltanschauung anhängt, erkennt häufig das Recht seiner Mitmenschen auf Leben, Gesundheit, Freiheit oder Eigentum nicht an. Auserwählte und allwissende Gruppierungen halten nichts von solchen materialistischen Errungenschaften.
Das muss durchaus nicht heißen, dass religiöse Menschen und Ideologen aller Couleur zwangsweise gegen Gesetze verstoßen. Irrationalisten können auch nur ihre Beine im Wasser der Quelle von Lourdes waschen, den Leuten bunte Prospekte in die Hände drücken, die Geschichte ihrer jeweiligen Ideologie anpassen und Andersdenkenden die Moralfähigkeit absprechen. Natürlich haben sie das Recht dazu und sollen es auch haben. Aber ist dieses Verhalten wünschenswert? Bringt es die Gesellschaft voran? Verbessert es unser Leben? Mit anderen Worten: Wären Staat und Kirche vollkommen getrennt – hätten Aufklärer dann nichts mehr zu tun?
Glaubst du noch oder denkst du schon?
Die Öffentlichkeitsarbeit der Religionen ist sehr effektiv. Islamisten müssen nur lauthals gegen die Meinungsfreiheit anschreien und Politiker treffen sich mit ihnen zum konstruktiven Teetrinken, Christen schleusen ihre primitiven Vorstellungen in die öffentliche Debatte um Sterbehilfe, genveränderte Nahrungsmittel und Abtreibung ein, sie bestimmen sogar in Ethikkommisionen, wie unsere Moral auszusehen hat*. Mit einer mangelhaften Trennung von Staat und Kirche hat das nicht viel zu tun. Der Glaube selbst ist das Problem.
Raubt uns der Glaube den Verstand? Thomas Jefferson (Autor des ersten politischen Dokuments, das die allgemeinen Menschenrechte anerkennt) war dieser Meinung: „Der Mensch hat, sobald er seinen Verstand aufgibt, keinen verbleibenden Wächter mehr vor den monströsesten Absurditäten und ist wie ein Schiff ohne Ruder jedem Windstoß ausgeliefert. Einer solchen Person nimmt die Leichtgläubigkeit, die man ‚Glaube‘ nennt, das Ruder aus den Händen der Vernunft und der Verstand wird zum Schiffbrüchigen“ (Brief an James Smith, 1822).
Glaube ist die Überzeugung, dass etwas wahr ist, weil die Belege zeigen, dass es falsch ist. Warum befindet man sich nun mit der Meinung, Glaube sei prinzipiell eine schlechte Idee, selbst unter Atheisten in einer Minderheitenposition? Warum löst der Irrsinn erst dann Widerspruch aus, wenn er schon Bomben wirft?
Wenn Menschen nur „privat“ glauben
Stattdessen meinen viele Atheisten („Agnostiker“), dass wir in einer Art paradiesischem Zustand leben würden, wenn doch nur der Glaube „Privatsache“ wäre. Was gedacht war, um Konfessionskriege zu verhindern, wurde umlängst zum Gipfel aller Weisheit erklärt. In Hinblick auf die Gesetzgebung wäre das Ziel „Privatglaube“ zwar erstrebenswert, aber die Aufklärung begnügt sich nicht damit! Das Ziel der Aufklärung ist die Bekämpfung jeglichen Aberglaubens, „Ecrazez l’infame“ nach Voltaire, sowie die Etablierung einer kritisch denkenden Gesellschaft. Es scheint fast so, als würde man stattdessen annehmen, dass der Glaube in seiner „Privatsache“-Variante gar nichts mehr anrichten würde. Als befände er sich dann wohlbehütet in den versiegelten Gummizellen gläubiger Gehirne.
Wer „nur“ in seinem Gehirn glaubt, dass Homosexualität eine Krankheit ist, wird ein solcher Mensch diesen Glauben einfach da drinnen konservieren wie den Wurm in einer Tequila-Flasche? Oder wird er Homosexuelle auch herablassend behandeln? Wer „nur als Privatsache“ glaubt, dass Frauen minderwertig sind und dass der Mann über sie herrschen solle, wird er seine Frau nicht tatsächlich halten wie ein Nutztier? Mag wohl sein, dass manche Frau selbst so verblendet ist, sich das gefallen zu lassen. Gesetze werden damit also nicht unbedingt gebrochen. Aber ist das erstrebenswert aus der Sicht der Aufklärung?
Wenn es um den Nationalsozialismus geht, scheint das „aufgeklärte Bürgertum“ nicht der Meinung zu sein, dass man so etwas nur in seinem Kopf glauben kann. Sie sprechen sich offen und deutlich dagegen aus, gehen sogar so weit, rechte Demonstrationen zu verbieten und begeben sich damit selbst an die Grenzen des Rechtsstaats. Doch alle anderen Irrationalitäten haben Narrenfreiheit. So lange sie nur „Privatsache“ sind, ist alles in Butter. Wir wollen es ja nicht Gottes Schafen gleichtun und missionierend durch die Straßen ziehen, nur um den armen Menschen ihren „Glauben zu nehmen“.
Alleine diese Formulierungen beweisen, dass religiöser Neusprech schon in den Reihen der Ungläubigen angekommen ist. Aufklärer missionieren nicht, sie ent-missionieren. Es ist nicht unsere Aufgabe, den wenigen Menschen, die ihn wirklich brauchen, „ihren Glauben zu nehmen“, aber es ist seit 250 Jahren sehr wohl unsere Aufgabe, die Mehrheit von ihrem Glauben zu befreien und ihren Blick auf die Realität zu schärfen. Hätten die Aufklärer des 18. Jahrhunderts auch diese weichgespülte Haltung vertreten, dann hätte die Enzyklopädie niemals das Licht in die Welt getragen. Sie wäre ihnen viel zu missionarisch vorgekommen. Und Menschenrechte gäbe es auch keine.
Antireligiöse Horden
Die Beschwörung „wir sind nicht antireligiös“ ertönt auf jedem Atheistenkongress (pardon, Agnostikerkongress) im Chorgesang, begleitet von rhythmischem Kopfschütteln beim Erklang des Wortes „antireligiös“. Wir doch nicht... Als ich diese Beteuerung zum ersten Mal hörte, dachte ich schon, ich wäre versehentlich in Pater Erwins Bibelstudienkurs für schwer Bekehrbare gelandet. Oder versteht der Mainstream-Atheismus am Ende etwas anderes unter „Religion“ als ich? Umschreibt das etwa nicht das alberne Zeug, was ich damals im Kindergottesdienst hätte tun sollen?
Laut Daniel Dennett ist Religion „ein soziales System, deren Teilnehmer sich zum Glauben an einen oder mehrere übernatürliche Agenten bekennen, dessen oder deren Wohlwollen anzustreben ist“ (Breaking the Spell, S. 9). Für mich jedenfalls klingt das unsinnig genug, um dagegen zu sein. Und „anti“ heißt doch „dagegen“. „Antireligiös“ scheint meine Haltung insofern genau zu treffen. Warum lehnen die anderen Atheisten diesen Begriff dann ab?
Wahrscheinlich spielen folgende Faktoren eine Rolle: 1. Pantheismus, 2. Marketing, 3. Höflichkeit, 4. Stalin und 5. Ahnungslosigkeit. Auf diese fünf Punkte gehe ich im zweiten Teil meiner kleinen Reihe über den Kuschelatheismus ein. Ziel ist es, alle weichgespülten Christentums-Umschwelger von den paradiesischen Verlockungen des Antitheismus zu überzeugen.
*Ich unterscheide hier nicht zwischen „Moral“ und „Ethik“. Es gibt ethisch und unethisch, moralisch und unmoralisch. Das Christentum ist das letzte.
Andreas Müller
Hinweis: Wer sich für die Neuropsychologie des „privaten Glaubens“ interessiert, dem sei Sam Harris Das Ende des Glaubens Kapitel 2 empfohlen, laut dem man seinem Glauben entsprechend handelt.
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