Hitlers Elite - Die Akademiker der SS

(hpd) Der Historiker Christian Ingrao erklärt den Weg von Akademikern zur SS aus der Verarbeitung des Traumas vom verlorenen Ersten Weltkrieg mittels der Akzeptanz einer eschatologischen Heilslehre. So beachtenswert die analytische Rekonstruktion der Biographien aus einer problemorientierten Perspektive ist, so wenig überzeugt die Herleitung aus einer traumatischen Wahrnehmung der Kriegsniederlage.

Wie konnten sich formal hoch gebildete Menschen an der Planung und Umsetzung des Massenmordes an den Juden im Zweiten Weltkrieg aktiv beteiligen? Diese Frage gehört zu den immer noch nicht ausreichend beantworteten Forschungs- und Interpretationsfeldern der Zeitgeschichte. Eine neue Deutung dazu präsentiert jetzt der französische Historiker Christian Ingrao, der seit 2008 Direktor des Institut d’Histoire du Temps Pésent in Paris ist.

In seinem Buch „Hitlers Elite. Die Wegbereiter des nationalsozialistischen Massenmords“ untersucht er die Lebenswege von 80 Hochschulabsolventen. Sie machten in der SS meist im Sicherheitsdienst Karriere und waren in diesem Kontext direkt oder indirekt an der Repressionspolitik beteiligt. Als seinen Ausgangspunkt benennt Ingrao die Einsicht, „den Nationalsozialismus als ein Glaubenssystem zu begreifen, das sich in der Sprache und in einer bestimmten Praxis ausgedrückt hat“(S. 10). Häufig ignorierte Emotionen wie Angst und Hass, Inbrunst und Verzweiflung seien dabei bedeutsam gewesen.

Im ersten Teil seiner Studie geht es Ingrao um eine Erfahrungsgeschichte, sieht er doch in der traumatischen Wahrnehmung des verlorenen Ersten Weltkriegs einen bedeutsamen Bedingungsfaktor für den politischen Weg der gemeinten Personen. Die dadurch aufgekommene kollektive narzisstische Kränkung erkläre die Hinwendung zu Ideologien und Mentalitäten, die von apokalyptischen und eschatologischen Einstellungen geprägt sei. Über soziale Netzwerke während des Studiums hätte sich die spätere SS-Elite radikalisiert. Ingrao schreibt: „Fachwissen, militantes Engagement und Kultiviertheit: Im Zusammenspiel dieser drei Dimensionen wird deutlich, was diese militanten Intellektuellen so besonders macht ...“ (S. 53).

Im zweiten Teil geht es dann um den konkreten Weg der untersuchten Akademiker in den Nationalsozialismus und die SS. Der emotionale Reiz für diese Entwicklung habe in einem Glaubenssystem bestanden, welches Hoffnung und Inbrunst zur Lösung der historischen Verwicklung des seinerzeitigen Deutschland anbot.

Und schließlich behandelt der Autor das Wirken von „Hitlers Elite“ während des Zweiten Weltkrieges im Kontext der Massenmordpolitik gegen die Juden. Auch dabei sieht er den herausragenden Einfluss der erwähnten Einstellungen und Gefühle: „Millenaristischer Glaubenseifer, Untergangsängste und Mission der Selbstverteidigung: Dank dieser Kombination fanden die SS-Leute der Einsatzgruppen offenbar ausreichend hasserfüllte Antriebe, um ihre Mordtaten zu begehen“ (S. 240).

Eine herausragende Rolle hätten die gemeinten Akademiker aber bei der Rechtfertigung der Verbrechen an den Juden eingenommen: „Tatsächlich trugen die SS-Intellektuellen maßgeblich zur ideologischen Rechtfertigung des Völkermords bei, indem sie in den Kommandos persönlich für jeden neuen Schritt bei der Durchführung der Massenmorde Legitimationen erstellten und die Beteiligten bei ihrem Tun ideologisch begleiteten“ (S. 307). Dabei habe man dieses Engagement sowohl mit dem Hinweis auf „Notwehr“ wie auf „Utopie“ gerechtfertigt.

Ingrao kommt das Verdienst zu, die Biographien von 80 Akademiker in der SS untersucht zu haben. Dabei arbeitet er überzeugend eine Reihe von Gemeinsamkeiten heraus, welche nicht nur in der Deutung der seinerzeitigen politischen Ereignisse, sondern auch im Engagement in bestimmten Organisationen ihren Ausdruck fanden. Einzelne Fälle wie die von Werner Best und Franz Alfred Six, die aber auch in gesonderten Biographien bereits noch ausführlichere Aufmerksamkeit gefunden haben, verdienen diesbezüglich großes Interesse. Ob Ingrao allerdings mit seiner Deutung eine überzeugende Erklärung für die Frage nach den Gründen für die Hinwendung dieser Akademiker zur SS gefunden hat, darf ebenso eindeutig angezweifelt werden. Die von ihm erwähnten Empfindungen und Prägungen teilten große Teile der Gesellschaft, die eben nicht den gleichen politischen Weg einschlugen. Hier wäre die vergleichende Betrachtung einer Kontrollgruppe von anderen Akademikern für die Herausarbeitung der entscheidenden Faktoren von großer Bedeutung gewesen.

Armin Pfahl-Traughber

 

Christian Ingrao, Hitlers Elite. Die Wegbereiter des nationalsozialistischen Massenmords. Aus dem Französischen von Enrico Heinemann und Ursel Schäfer, Berlin 2012 (Propyläen-Verlag), 569 S., 24,99 €.