Grüne Kinderpolitik ade?

Zutreffend ist zwar, dass die Veränderungen innerhalb der jeweiligen Religionsgemeinschaften von zentraler Bedeutung sind, aber das kann nicht bedeuten, sich dem gesellschaftlichen Dialog zu entziehen. Diese Antragsteller, die fast ausnahmslos türkische oder arabische Namen tragen, scheinen in ihrer jeweiligen Tradition verankert zu sein, was unbestritten legitim ist - was aber auffällt, ist, dass sie keinerlei Bereitschaft zeigen, über diese Tradition auch nur ansatzweise zu diskutieren und neue medizinische, kinderpsychologische, sexuelle Forschungsergebnisse zur Kenntnis zu nehmen. Es scheinen (betrachtet man die vorliegenden Anträge zur Knabenbeschneidung) bei den Grünen keine Mitglieder mit Migrationshintergrund vorhanden zu sein, die bereit sind, ihre Traditionen zu überdenken (wie dies Michael Wolfssohn vor einigen Wochen für die jüdische Tradition angemahnt hat). Offenbar herrscht bei diesen Grünen die Auffassung vor, die der Berliner Rabbiner Ehrenberg vehement vertritt: Wir ändern gar nichts und machen einfach weiter wie bisher, wir diskutieren nicht einmal über unsere Rituale und Traditionen!

Rabbiner Ehrenberg ist orthodox und kein Mitglied der Grünen. Dass aber grüne Mitglieder sich der Debatte verweigern, hätte vor einiger Zeit kaum jemand für möglich gehalten. Das widerspricht dem Selbstverständnis der Grünen fundamental. Gemessen an dem (öffentlich verkündeten) Selbstverständnis ihrer Partei, könnten Parteimitglieder eigentlich nur einem einzigen Vorschlag zustimmen, dem Vorschlag nämlich für ein (zweijähriges) Moratorium und die Einrichtung eines Runden Tisches; das dies nicht geschieht, zeigt, dass bei manchen die Bereitschaft zum gemeinsamen argumentativen Ringen um eine angemessene Lösung der anstehenden Problematik nicht besteht.

Eine wich­tige Stimme mit Migrationshintergrund: der Abgeordnete  Kilic

Unredlich freilich wäre es, unerwähnt zu lassen, dass es auch Grüne mit Migrationshintergrund gibt, die für eine offene und kritische Debatte plädieren. Es sei nur der Bundestagsabgeordnete Mehmet Kilic genannt, der sich - wie die ZEIT veröffentlicht hat - „mit Grauen“ an seine eigene Beschneidung im türkischen Malatya erinnert. Er plädiert zum einen für eine Debatte ohne Zeitdruck, zum anderen dafür, die Entscheidung vom betroffenen Knaben selbst und nicht von dessen Eltern treffen zu lassen. Er sieht völlig im Einklang mit der Kinder-Programmatik der Grünen Kinder nicht als Eigentum der Eltern an, sondern als selbstständige Individuen mit vollen Rechten und fordert, Religionen, religiöse Riten, Gebräuche und Traditionen im Licht der Vernunft und neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse neu zu verstehen und zu interpretieren.

In einem eigenen Antrag an die BDK äußern sich führende Grüne (Claudia Roth, Renate Künast, Steffi Lemke, Volker Beck, Sven Giegold, Jerzy Montag, Cem Özdemir, Jürgen Trittin u.a.) und fordern, die Beschneidungsdebatte mit gegenseitigem Respekt zu führen; ihr Antrag stellt allenfalls einen Aufruf zum fairen Umgang dar, geben letztlich beiden Seiten - Befürwortern und Gegnern der körperlichen Unversehrtheit des minderjährigen Knaben - irgendwie recht, bleiben in der Sache selbst jedoch substanzlos. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass einige von ihnen derzeit in einem innerparteilichen Wahlkampf um die Spitzenplätze bei der nächsten Bundestagswahl konkurrieren und dieses Thema gegenwärtig nicht für opportun halten. Immerhin erklären sie, dass die Grünen-Fraktion im Bundestag die Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung freigeben und auf Fraktionszwang verzichten wird. Karin Göring-Eckhardt, eine weitere Konkurrentin um die Spitzenplätze, hat diesen Antrag nicht unterzeichnet. Sie - die sie die Grünen als Partei des Bürgertums verortet - vertritt eine sehr eindeutige Botschaft: Es gebe ein Recht auf Beschneidung, das gesetzlich garantiert werden müsse. Da ist er dann: Der Schulterschluss der Religiösen. Von Kinderrechten ist freilich bei dieser Politikerin, die auch beim Evangelischen Kirchentag in führender Position tätig ist, nichts zu vernehmen.

Was letztlich entschieden werden wird auf der Bundesdelegiertenkonferenz im November, ist nicht vorhersehbar. Immerhin zeigt sich in den meisten Anträgen, dass der Geist für (mehr) Kinderrechte, für ein Denken vom Kind her, bei Teilen der Grünen nach wie vor lebendig ist und nicht Ritualen und Traditionen geopfert werden soll. Und dass der lebendige Mensch wichtiger ist als ein bloßes Ritual. Das lässt hoffen. Wichtig aber ist, die eigene Position auch dann durchzuhalten, wenn der Gegenwind heftig ist. Ständige Antisemitismusvorwürfe und Beschuldigungen verunmöglichen ein Klima, in dem auf Augenhöhe und rational miteinander diskutiert wird. Auf die wiederholt vorgetragene Behauptung, durch ein Beschneidungsverbot werde jüdisches Leben in Deutschland unmöglich gemacht, hat der Jude Michael Wolffsohn schon das Nötige geantwortet. Diese unzutreffende Behauptung mag in der jüdischen Community weitererörtert werden, taugt aber nicht als Begründung für die Einschränkung von Menschenrechten.

Die gesell­schaft­li­che Debatte hat begon­nen und wird wei­ter­ge­hen

Egal aber, wie die Grünen innerparteilich entscheiden mögen, egal, wie der der Deutsche Bundestag entscheiden wird: Das Thema ist in der Öffentlichkeit, es ist in den betroffenen Communities angekommen. Es wird debattiert und diese Debatte hört nimmermehr auf. Dafür sorgen (in erster Linie) schon diejenigen weltweit, die sich als Muslime, als Juden gegen dieses archaische Ritual aussprechen, die ihre Kinder nicht mehr beschneiden lassen, und neue medizinische und psychologische Erkenntnisse zur Kenntnis nehmen und weiter verbreiten. Dafür werden jetzt auch Betroffene sorgen: Sie haben sich - jedenfalls in Deutschland - im Jahr 2012 erstmals in die Öffentlichkeit gewagt und ihre teils traumatischen Erlebnisse bei und nach der Beschneidung beschrieben - sie haben ein Tabu gebrochen. Welch ein Mut!

Dies alles wurde in Deutschland Realität, weil am 7. Mai des Jahres 2012 ein Gericht die Menschenrechte des Knaben höher als Elternrechte gestellt hat, weil die Richter vom Kind her gedacht und geurteilt haben. Und nochmals der vormalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Winfried Hassemer - man kann ihm nur zustimmen, wenn er sagt: „Der 1. Kleinen Strafkammer des Landgerichts Köln sei Dank!“