PASSAU. (hpd) Die Diskussion um die Zulässigkeit medizinisch nicht notwendiger Beschneidungen geht auf den Rechtswissenschaftler Holm Putzke zurück – er gilt als „geistiger Vater“ des Kölner Beschneidungsurteils. In einem Interview mit dem hpd kommentiert er das vom Bundestag verabschiedete Beschneidungsgesetz.
Seit seiner grundlegenden Untersuchung aus dem Jahr 2008 hat Holm Putzke sich in zahlreichen weiteren wissenschaftlichen Beiträgen mit der Thematik auseinandergesetzt und mit seinen kritischen Stellungnahmen zur aktuellen Debatte diese maßgeblich geprägt. Der Entscheidung des Landgerichts Köln vom 7. Mai 2012 stimmt er zu: „Von dem Urteil geht eine klare und richtige Botschaft aus: Ob Junge oder Mädchen, die Genitalien kleiner Kinder darf man ohne medizinische Notwendigkeit nicht verletzen – auch nicht aus religiösen Gründen“.
hpd: Herr Putzke, der Bundestag hat kürzlich ein Gesetz verabschiedet, das Eltern erlaubt, Jungen ohne medizinischen Grund die Vorhaut abzuschneiden. Was halten Sie als Urheber der ganzen Debatte von dem Gesetz?
Holm Putzke: Das Gesetz enthält im Vergleich zum bisherigen Rechtszustand gravierende Verschärfungen – vor allem mit Blick auf Beschneidungen durch Nichtärzte. Erstens wird klargestellt, dass es solchen Personen zukünftig verboten ist, Kinder zu beschneiden, die älter als sechs Monate sind.
Zweitens werden in der „Mohelklausel“ vor allem jüdische Beschneider, sogenannte Mohalim, verpflichtet, sich an medizinische Standards zu halten. Denn das Gesetz erlaubt Beschneidungen nur dann, wenn sie lege artis vorgenommen werden, also nach den Regeln der ärztlichen Kunst. Verboten sind danach rituelle Beschneidungen ohne wirkungsvolle Schmerzbehandlung. Mohalim sind in der Regel aber keine Ärzte, weshalb es ihnen auch nicht erlaubt ist, geeignete Schmerzmittel einzusetzen. Sie sind deshalb gar nicht in der Lage, eine wirkungsvolle Schmerzbehandlung vorzunehmen. Daraus folgt zwangsläufig, dass Beschneidungen zukünftig ausschließlich dann durchgeführt werden dürfen, wenn der Beschneider zugleich die Voraussetzungen der Approbationsordung für Ärzte erfüllt oder ein Arzt bei der Beschneidung anwesend ist und die Schmerzbehandlung übernimmt.
Verboten sind zukünftig übrigens auch Beschneidungen, die der Mohel mit seinem scharfen Fingernagel verrichtet oder bei denen er das Blut mit seinem Mund absaugt, was bei dem in ultraorthodoxen Kreisen noch immer praktizierten Ritual Metzitzah B’peh üblich ist.
Drittens sind auch nichtärztliche Beschneider zukünftig verpflichtet, die Eltern über den Eingriff und die damit verbundenen Risiken umfassend aufzuklären. Das geschah bisher nie oder die Abtrennung der Vorhaut wurde verharmlost, weshalb viele Eltern gar nicht wussten, welchen Gefahren sie ihr Kind ausgesetzt haben.
hpd: Wer Ihren Standpunkt nicht kennt, könnte fast den Eindruck gewinnen, dass Sie zufrieden sind mit dem Gesetz!
Holm Putzke: Das Beschneidungsgesetz ist ein Fehlgriff! Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass auf dem Boden des Grundgesetzes ein Gesetz zustande kommt, das gestattet, schutzbedürftigen Säuglingen und Kindern ohne medizinischen Grund einen erogenen Körperteil irreversibel abzutrennen, ihnen dadurch Schmerzen zuzufügen und sie gesundheitlichen Risiken auszusetzen.
hpd: Die Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger hat in einem Interview behauptet, dass die Komplikationsrate weltweit bei 0,01 Prozent liege. Das klingt nicht gerade nach viel.
Holm Putzke: Das klingt vor allem nach wenig Ahnung. Es ist erschreckend, dass jemand, der einen solchen Unsinn verbreitet, die Verantwortung dafür trägt, ein Gesetz zu erarbeiten. Die Aussage der FDP-Ministerin spiegelt sich nicht ansatzweise in wissenschaftlichen Studien wider. Niemand bestreitet, dass schwere Komplikationen selten sind. Doch auch Penis- oder Eichelamputationen kommen vor und sogar Todesfälle sind bekannt. Allein dies dokumentiert genügend Schadenspotential, um als halbwegs vernünftiger Mensch einzusehen, dass solche medizinisch unnötigen Eingriffe keinesfalls vom Elternrecht gedeckt werden. Darüber hinaus sind Schmerztraumata nachweisbar, in vielen Fällen kommt es zu Wundinfektionen und es sind Nachoperationen nötig – nicht zu reden von dem Sensibilitätsverlust, der bei zahlreichen Betroffenen spürbare physische und psychische Probleme verursacht. Was muss mit intelligenten Menschen los sein, wenn sie vor all dem Augen und Ohren verschließen?
Nur zur Klarstellung: Ich weiß natürlich, dass die meisten beschnittenen Männer sich an den Verletzungsakt entweder nicht oder nicht negativ erinnern und mit ihrem Zustand zufrieden sind. Aber es gibt auch zahlreiche Erwachsene, die eine im Kindesalter aus vermeintlich erzieherischen Zwecken erlittene Tracht Prügel unbekümmert mit den Worten kommentieren: „Geschadet hat es mir jedenfalls nicht.“ Richtigerweise lassen wir das nicht gelten. Uns genügen schon das abstrakte Schadenspotential und einige dokumentierte Schädigungen, um das Recht auf gewaltfreie Erziehung notfalls auch mit dem Strafrecht durchzusetzen. Warum genügen uns nicht diejenigen, die durch eine Beschneidung physisch oder psychisch geschädigt wurden, um wegen des Risikos solcher Schäden die Vorhautabtrennung zu verbieten?
Nur einmal angenommen, es gäbe dieses religiöse Ritual nicht: Zweifellos würde der Staat sofort eingreifen, wenn das Christentum unter Berufung auf eine Bibelstelle plötzlich der Idee verfiele, dass der Bund ihres Gottes die Amputation der Vorhaut eines acht Tage alten Säuglings verlange.
hpd: Von Komplikationen, Risiken und Schmerzen ist in der Gesetzesbegründung, die das Justizministerium erarbeitet hat, nicht viel zu lesen. Verwiesen wird stattdessen auf eine Stellungnahme der AAP, der American Academy of Pediatrics. In dem zuvor schon erwähnten Interview sagt die Bundesjustizministerin, die AAP habe Beschneidungen sogar empfohlen.
Holm Putzke: Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger verbreitet – wahrscheinlich aus Unwissenheit – die Unwahrheit. Das ist befremdlich und sollte ihr peinlich sein. Die AAP hat in der aktuellen Stellungnahme nämlich überhaupt keine „Empfehlung“ für Beschneidungen abgegeben, sondern lediglich geäußert, dass die Entscheidung darüber den Eltern überlassen werden sollte, weil gesundheitliche Vorteile beschnittener Neugeborener schwerer wögen als die Risiken.
Was diese Begründung angeht, ist die Stellungnahme der AAP übrigens vollkommen unbrauchbar. Erstens handelt es sich um eine von Lobbyisten beeinflusste Erklärung. Denn zu dem Verband gehören auch die US-amerikanischen Geburtshelfer. Vor allem für sie ist das Beschneiden von Neugeborenen ein profitträchtiges Geschäft. Ihre Umsätze brachen ein, nachdem sich die AAP in den Jahren 1999 und 2005 noch gegenteilig geäußert hatte. In der aktuellen Stellungnahme findet sich der verräterische Hinweis, dass die Kehrtwende der AAP ausdrücklich von den Geburtshelfern unterstützt wird. Zweitens bestand die Projektgruppe der AAP selber aus zahlreichen Beschneidungsbefürwortern, die teilweise sogar ihre eigenen Kinder hatten beschneiden lassen. Es liegt doch auf der Hand, dass solche Leute zur Rechtfertigung des eigenen Verhaltens die Vorhautamputation harmlos finden wollen und bestrebt sind, irgendetwas Nützliches daran zu entdecken. Drittens hat die Projektgruppe aktuelle Studien ignoriert oder jedenfalls bei der Gesamtbetrachtung unberücksichtigt gelassen, unter anderem zu den Auswirkungen der Vorhautamputation auf die Sensibilität und zu den Folgen der erlittenen Schmerzen. Viertens haben weltweit zahlreiche kinderärztliche Verbände dem AAP-Pamphlet energisch widersprochen – kurz: die AAP steht mit ihrer Fehleinschätzung inzwischen weltweit völlig isoliert da.
Dass diese Verlautbarung gleichwohl in der Gesetzesbegründung kritiklos angeführt wird, dokumentiert das oberflächliche Niveau, auf dem sich die Ausführungen bewegen. Es zeigt auch, dass die gebetsmühlenartige Betonung, es gehe um das Kindeswohl und das Kind habe ein Recht auf körperliche Unversehrtheit, pure Heuchelei ist. Man will das eigentliche Ziel verschleiern, das archaische Ritual der religiösen Beschneidung, koste es was es wolle, zu retten. Die Debatte wäre anders verlaufen, wenn das Justizministerium Fakten objektiv gewichtet und nicht absichtsvoll selektiv gesammelt hätte.