Argumente für Religion auf dem Prüfstand (4)

(hpd) Es gibt Argumente, die immer wieder angeführt werden, um zu belegen, dass an Religion etwas dran oder sie sogar notwendig ist für die menschliche Gesellschaft. Buchautor Alfred Binder stellt in einer Serie auf den Prüfstand, was für Religion zu sprechen scheint. Heute der Schluss.

Im abschließenden Teil geht er auf die Widersprüche ein, die sich beim Vergleich der Kernlehren verschiedener Religionen zeigen, erörtert weitere Argumente pro Religion und stellt dem vier kritische Thesen entgegen.

Es gibt viele und sehr unterschiedliche Religionen. Diese Unterschiede sind auf die verschiedenen Entstehungszeiten und die verschiedenen Umwelten zurückzuführen. Auch sind die Menschen verschieden und interpretieren deshalb die Welt verschieden. Der Kern aller Religionen ist aber der gleiche: Es gibt etwas Höheres als den Menschen und es ist wichtig, dieses Höhere anzuerkennen. 

Untere und höhere Ebene der Religionen

Religionen ähneln sich sehr stark. In allen Religionen führen die Anhänger ähnliche Rituale aus, beten sie um die Erfüllung ihrer Wünsche und die Vermeidung von Unglück, versuchen sie durch Opfer und Spenden jenseitige Wesen für sich zu gewinnen, bemühen sie sich die Gebote und Verbote ihrer Religion zu befolgen und hoffen, dass nach ihrem Tod ein besseres Leben beginnt. Diese Eigenschaften der Religionen kann man zur unteren Ebene rechnen.

Die Religionen unterscheiden sich aber stark auf der oberen Ebene oder der ihrer Kernlehren. Richtig ist zwar, dass alle etwas Höheres, eine höhere Wirklichkeit behaupten, das macht sie ja erst zur Religion, aber mit dieser Behauptung ist es nicht getan. Es kommt schon darauf an, wie dieses Höhere beschaffen sein soll und was es von den Menschen will. Nach den Lehren der allermeisten Religionen ist es für das Seelenheil entscheidend, ob man Anhänger der richtigen Religion ist. Nach den Lehren der Religionen ist es nicht damit getan, an die Existenz irgendeines unbestimmten Höheren zu glauben. Wer also behauptet, alle Religionen sind wahr, stellt sich auch außerhalb jeder konkreten Religion.

Kernlehren verschiedener Religionen

Der auffallendste und grundlegendste Widerspruch zwischen den verschiedenen Religionen ist der zwischen Polytheismus und Monotheismus. Die Monotheisten glauben nicht, dass die vielen Götter nur Erscheinungsformen des einen Gottes sind, wie manche modernen Polytheisten behaupten. Für die Monotheisten gibt es einfach nur einen Gott. Und die Polytheisten, für die die vielen Götter nur Erscheinungsformen einen Gottes sind, glauben trotzdem, dass es in der jenseitigen Welt viele Götter gibt. Aber entweder es gibt dort viele Götter oder nur einen. Entweder haben die Monotheisten oder die Polytheisten Recht, beide können nicht Recht haben. Aber beide können Unrecht haben, es könnte auch sein, dass die Atheisten richtig liegen, dass es so etwas wie Gott oder Götter nicht gibt.

Auch der Glaube an die verschiedenen Arten von Jenseitswesen ist nicht miteinander vereinbar: Für manche Animisten gibt es nur Geister, für manche auch Götter. Für Polytheisten gibt es Geister und Götter. Die meisten Monotheisten glauben, es gibt nur einen Gott, aber noch andere übernatürliche Wesen, wie Geister, Heilige, Engel und Teufel. Für manche Monotheisten gibt es nur Gott und Teufel. Für manche Esoteriker gibt es nur so etwas wie eine positive jenseitige Energie, das „Universum“. Die Buddhisten verneinen die Existenz eines Schöpfergottes, verneinen aber nicht die Existenz von Göttern. Sie behaupten jedoch, auch diese müssen irgendwann vergehen.

Die Grundlehren der verschiedenen Religionen widersprechen sich auch in den nicht unwichtigen Behauptungen, was den Weg zur Erlösung, zur ewigen Glückseligkeit, betrifft. Viele Animisten glauben, der Stamm besitze ein Revier in einer Jenseitswelt. In dieses zu gelangen, ist im Verhältnis zu den Anforderungen der Großreligionen relativ unproblematisch: Es ist nötig, einigermaßen die Regeln der Ahnen zu befolgen, aber wichtiger ist die Ausführung von Ritualen und Zeremonien, die den Verstorbenen auf dem Jenseitsweg begleiten. Im Animismus kennt man keine Erbsünde, keine ewige Verdammnis und keine Abhängigkeit von der unkalkulierbaren Gnade eines höchsten Chefs.

Für die verschiedenen christlichen Kirchen kommt nur ins Paradies, wer glaubt, dass Jesus Gottes Sohn war und für die Menschheit am Kreuz gestorben ist und, noch entscheidender, wer in der richtigen, das heißt der eigenen, Kirche ist. Alle anderen werden ewig im Höllenfeuer glühen. Nach dem Koran kommt ausdrücklich nur ins Paradies, wer Allah verehrt und seinem Gesandten Mohammed folgt.

Für die Inder stellt sich die Lage ganz anders dar: Sie glauben, der Mensch muss sich in vielen Leben die Befreiung vom Leid erarbeiten, immer weniger schlechte Taten begehen, immer mehr gutes Karma anhäufen, bis er quasi automatisch in eine Sphäre endgültiger Erlösung eingeht.

Welche dieser doch sehr unterschiedlichen Auffassungen ist nun die richtige? Nur eines ist sicher, alle können nicht wahr sein. Auch wenn es eine richtige Religion geben würde, da es Abertausende von ihnen gibt, wäre es für einen Gläubigen unmöglich, sicher zu sein, dass er der richtigen anhängt.

Warum treibt die Unsicherheit in der Frage, welche Religion die wahre ist, die Gläubigen so wenig um? Einerseits glauben die meisten, es hänge von ihr das ewige Leben ab, andererseits nehmen sie es gleichgültig hin, dass es fundamental widersprüchliche Religionen und Lehren zu Erreichung des ewigen Lebens gibt.

Fazit: Dass nicht alle Religionen wahr sein können, da sich ihre Kernlehren auf unvereinbare Weise widersprechen, stellt einen fundamentalen Einwand gegenüber der Religion an sich dar. Die gewichtigsten Widersprüche sind die zwischen Polytheismus und Monotheismus und den verschiedenen Lehren über den Weg zur Erlösung.

Weitere Argumente pro Religion

Es gibt eine Reihe weiterer Argumente, welche für die Wahrheit oder den Nutzen der Religion sprechen sollen. Zu den am häufigsten angeführten gehören:

  1. Wir haben nicht nur durch zahlreiche Offenbarungen Kenntnis von Gottes Willen und Wirken, Gott hat sich auch auf vielfältige Weise in den „Heiligen Schriften“ der Menschheit mitgeteilt. Wer sie wirklich liest, wird erkennen, dass ihre Worte nicht von Menschen stammen können, dass sie göttlichen Ursprungs sind. Da heute jeder die Möglichkeit hat, Gottes Wort zu lesen, kann sich auch niemand mehr damit herausreden, Gottes Wahrheit nicht gekannt zu haben.
  2. Das Universum, die Erde, die Natur und der menschliche Geist sind so wunderbar und geheimnisvoll, aber auch so zweckmäßig eingerichtet, dass sie nur von einem übermenschlichen Wesen geschaffen worden sein können; einem Architekten, welcher alle menschlichen Vorstellungen weit übersteigt.
  3. Erst durch die Religion sind moralische Werte in die Welt gekommen und nur durch sie können sie begründet und durchgesetzt werden. Ohne Strafandrohung durch jenseitige Wesen würden sich die Menschen in den meisten Fällen nicht an die moralischen Gebote halten. Ohne Religion würden Mord und Totschlag, würde Anarchie unter den Menschen herrschen.
  4. Das Ergriffenwerden von einem Kunstwerk oder der Schönheit und Erhabenheit der Natur kann nicht durch eine biologistische Sichtweise erklärt werden. Dass wir an Dingen ein interesseloses Wohlgefallen haben, widerspricht den Nützlichkeitserklärungen des biologistisch-materialistischen Denkens, welches alle Phänomene des Lebens auf seine Überlebensvorteile reduziert. Das Schönheitsempfinden ist ein starkes Indiz für die Existenz Gottes oder von Geist. Es scheint ein Geschenk zu sein, welches uns das Wunder der Schöpfung offenbaren soll.
  5. Der Atheismus zerstört das Obdach des Menschen, verurteilt ihn zum Nihilismus. Ohne die Religion sind alle menschlichen Anstrengungen sinnlos, weil der Vergänglichkeit unterworfen. Nur die Religion kann dem Leben einen Sinn geben, denn nur sie weist über dieses Leben hinaus.

Kritik in vier Thesen

Meine Kritik an diesen und anderen Argumenten für die Religion läuft auf vier einfache Thesen über die Religion hinaus:

1. Religion war unvermeidlich

Die Menschen, welche Bewusstsein von sich und der Welt entwickelten, hatten keine andere Möglichkeit, als sich die Welt religiös, als eine von Geistern beherrschte, zu interpretieren. Natürliche Deutungen standen ihnen nur sehr spärlich und wissenschaftliche überhaupt nicht zur Verfügung.

2. Religion war nützlich

Die religiöse Weltdeutung barg viele Vorteile. Die Angst vor Geistern ließ unsere Vorfahren vorsichtiger sein und verringerte dadurch die Zahl gefährlicher Situationen. Nützlich war und ist die religiöse Weltdeutung für die Religionsdienstleister (Priester, Theologen etc.) unter anderem materiell und für ihren sozialen Status.

Eine psychische Hilfe war und ist Religion für viele Menschen, da sie auf diese Hilfe in ihrer Sozialisation konditioniert wurden. Religiöse Sozialisation wirkt aber sehr ambivalent, vereinfacht gesagt: sie beruhigt und verängstigt; beides letztlich durch Fantasien. Mit einigen anderen Vorteilen trug die religiöse Weltdeutung aber dazu bei, dass sich der Mensch zum Herrn über die Erde aufschwang.

3. Religion ist höchstwahrscheinlich falsch

Der Kern der Weltdeutung aller bekannten Religionen, die Geisterdeutung, ist höchstwahrscheinlich falsch, obwohl sie nützlich war. Warum nur höchstwahrscheinlich falsch? Aus dem einfachen Grund, weil sich die Nichtexistenz von etwas, hier der Geister, prinzipiell nicht beweisen lässt. Trotzdem tendiert die Wahrscheinlichkeit der Existenz von Geistern (oder eines großen Geistes) gegen Null, da es nicht die Spur eines Beleges für sie gibt.

4. Religion ist gefährlich

Religion war immer gefährlich, brachte neben Nutzen immer auch viel Leid. In unserem globalisierten Dorf Erde mit seinen ungeheuren technischen Möglichkeiten sind die religiösen Differenzen aber nicht nur eine Gefahr für den Frieden von Gesellschaften geworden, sondern für den zwischen Völkern und für das Überleben der Menschheit. Zu einer besonders großen Gefahr haben sich die Differenzen entwickelt, welche aus den Wahrheitsansprüchen der monotheistischen Religionen erwachsen.

Alfred Binder studierte Sozialarbeit und Philosophie. 2009 erschien sein Buch „Mythos Zen“, eine kritische Auseinandersetzung mit dem Zen-Buddhismus. Die vier Thesen werden in seinem neuen Buch „Religion. Eine kurze Kritik“ ausgeführt. Es erschien im Herbst als erster Band der Reihe Kritikpunkt.e im Alibri Verlag.

Alfred Binder: Religion. Eine kurze Kritik. Reihe Kritikpunkt.e. 172 Seiten, kartoniert, Euro 10.-, ISBN 978-3-86569-120-0

Das Buch ist auch im denkladen erhältlich.
 

Argumente für Religion auf dem Prüfstand (1): Alle Völker haben eine Religion

Argumente für Religion auf dem Prüfstand (2): Die Offenbarung

Argumente für Religion auf dem Prüfstand (3): Gott wird durch das Herz, nicht durch die Vernunft wahrgenommen