Wallace-Jahr 2013

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Alfred Russel Wallace (1823-1913) / Gemälde von J. W. Beaufort

KASSEL. (hpd) Der vor zehn Jahren gegründete Arbeitskreis (AK) Evolutionsbiologie wurde kürzlich vorgestellt. Die Vereinigung hat anlässlich des 100. Todesjahres für 2013 das "Wallace-Jahr" ausgerufen, und das Naturhistorische Museum in London stellte inzwischen alle Briefe von Wallace online, damit er aus dem Schatten Charles Darwins heraustreten kann. Worum geht es?

Der hpd sprach dazu mit dem Vorsitzenden des AK Evolutionsbiologie, Herrn Prof. Dr. Ulrich Kutschera, und fragte ihn zur Bedeutung von Wallace.
 

hpd:  In einem Beitrag im Wissenschaftsmagazin Nature hatten Sie vor kurzem dargelegt, dass der Mit-Entdecker der natürlichen Selektion u. a. ein Pionier der Astrobiologie war. Warum ist er dennoch so wenig bekannt?

U. Kutschera: Alfred Russel Wallace war ein Außenseiter der Naturwissenschaften. Wegen der Armut seiner Eltern musste er im Alter von 14 Jahren die Schule verlassen, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und konnte daher keine Universität besuchen. Wallace hat sich sein Fachwissen selbst beigebracht und war somit Autodidakt. Unabhängig von Charles Darwin (1809-1882) entdeckte er 1858 während einer Forschungsreise in Südost-Asien das Prinzip der natürlichen Selektion. Er verfasste ein "Ternate-Manuskript" und sandte es an Darwin. Dieser kurze Aufsatz veranlasste den wohlhabenden, älteren Kollegen dazu, im Schnellverfahren sein Hauptwerk zur Entstehung der Arten (1859) zu veröffentlichen. Wallace gilt seither nur als "Mit-Entdecker" des Ausleseprinzips, und somit einer der zentralen Antriebskräfte der biologischen Evolution. Da er als bescheidener Mann ohne Beziehungen zeitlebens keine Anstellung finden konnte, ist er bisher nicht aus dem Schatten des einflussreichen Charles Darwin herausgetreten. In meinem Nature-Beitrag habe ich seine wahre Bedeutung hervorgehoben.

Hat Charles Darwin seinem jüngeren Kollegen Wallace die Ergebnisse gestohlen, d. h., wie bewerten Sie diese Verschwörungstheorie?

U. Kutschera: Die Behauptung, Wallace wäre von Darwin bestohlen und betrogen worden, kursiert seit vielen Jahren, u. a. auch in der Literatur der Kreationisten. Wir wissen aber, dass Darwin den Aufsatz von Wallace rasch weitergeleitet hat, und eine Doppel-Veröffentlichung, mit seinem Kurz-Beitrag zur Arten-Transformation durch natürliche Auslese an erster Stelle, veranlasste. Darwin hat sich hiermit seine Priorität gesichert, was korrekt war. Wir sprechen seit 2008 nicht mehr vom "Darwinismus", sondern vom "Darwin-Wallace-Prinzip der natürlichen Selektion". Dieser Sachverhalt ist u. a. in unseren YouTube Videos zur Evolutionsbiologie ausführlich dargelegt.

 

Standen Darwin und Wallace in Kontakt zueinander? Wenn ja, gab es einen wissenschaftlichen Austausch?

U. Kutschera: Obwohl Charles Darwin ein wohlhabender Akademiker der englischen Oberschicht, und Wallace ein einflussloser, nur aus innerem Antrieb heraus agierender Forscher und Buchautor war, hat der ältere Darwin die Leistungen von Wallace immer anerkannt. Darwin hat Wallace an entsprechender Stelle zitiert und ihm über seine guten Verbindungen zu wichtigen Persönlichkeiten eine bescheidene Regierungs-Pension verschafft. Wallace hat bis zu seinem Lebensende Charles Darwin als Freund und Lehrer verehrt.

Wallace hat auf zahlreichen Gebieten der Biologie gearbeitet, was sind seine bleibenden Verdienste?

U. Kutschera: Im Gegensatz zu Darwin hat Wallace eine "Vererbung erworbener Körpereigenschaften" zeitlebens abgelehnt, und lag damit richtig. Wallace ist u. a. über sein Buch "Darwinism, 1889", gemeinsam mit August Weismann (1834-1914), zum Begründer der "Neo-Darwin'schen Theorie der Evolution" geworden. Wallace war als Tier- und Pflanzensystematiker, Bio-Geograph, und Evolutionstheoretiker bedeutsam. Er hat aber auch z. B. die Biodiversitäts-Forschung und Astrobiologie begründet und in seinen letzten Büchern, insbesondere "The World of Life, 1910", philosophische Thesen vertreten, die noch heute diskutiert werden. Sein Gesamt-Werk umfasst ca. 500 wiss. Publikationen sowie über 20 Bücher. Es geht weit über jenes von Charles Darwin hinaus, und an vielen Stellen war Wallace origineller als der berühmte Down House-Forscher.

Wallace war auch politisch tätig, und als Sozialist vertrat er radikale Ansichten?

U. Kutschera: Da Wallace zeitlebens in Armut verblieb, wissenschaftlicher Ruhm war auch im 19. Jahrhundert keine Garantie für wirtschaftlichen Erfolg, fühlte er sich, u. a. auch bedingt durch sein persönliches Schicksal, politisch dem Sozialismus verpflichtet. Wallace lehnte eine Anhäufung von Eigentum über Vererbungen ab und verfasste politische Schriften, in welchen eine gerechte Gesellschaft, ohne Religionen, beschrieben ist. Diese Aktivitäten haben seinem Ruf als Naturwissenschaftler eher geschadet als genützt.

Wallace war Spiritist. Wie kann das erklärt werden, er war doch nicht christlich-religiös geprägt?

U. Kutschera: Der Naturforscher Alfred Wallace war nicht religiös, an keiner Stelle seiner zweibändigen Lebenserinnerungen, "My Life, 1905", wird eine Beziehung zu einer Kirche oder dem Christentum erwähnt. Andererseits hat er sich aber seit ca. 1860 dem Spiritismus, d. h. angeblicher "Geister-Beschwörungen" usw., verschrieben. Das große Rätsel, warum ein brillanter Biologe obskure "Geister-Erscheinungen" akzeptiert und verteidigt hat, habe ich in meinem aktuellen Buch "Design-Fehler in der Natur. Alfred Russel Wallace und die Gott-lose Evolution", geplantes Erscheinungsdatum Sept. 2013, ausführlich diskutiert und beantwortet. Man muss den gesamten Hintergrund kennen, um diesen komplexen Sachverhalt verstehen zu können.

Wallace war ein unabhängiger Forscher. Wie konnte er ohne Unterstützung so produktiv arbeiten, was ist das "Wallace-Erfolgsprinzip"?

U. Kutschera: In dem o. g. neuen Buch zum "Wallace-Jahr 2013" habe ich den "Mann im Schatten von Charles Darwin" als "Freidenker und Pionier der Biowissenschaften" bezeichnet. Daraus können wir ein "Erfolgsrezept a la Wallace" ableiten: Man sollte frei von ideologischem Ballast, insbesondere religiöser Dogmen, denken, forschen und publizieren. Wallace hat seine gesamten Forschungsarbeiten aus Eigeninitiative, ohne Beziehungen, Geldmittel von dritter Seite und aufmunterndem Zureden irgendwelcher einflussreichen Mentoren, durchgeführt. Bis zu seinem Tod war er als Buchautor tätig und hat ein Lebenswerk hinterlassen, welches dasjenige vieler heute lebender, staatlich alimentierter deutscher Professoren der Biologie in den Schatten stellt. Daher sollten wir im "Wallace-Jahr 2013", das der AK Evolutionsbiologie mit Unterstützung der GBS-Ortsgruppe Kassel organisiert, klar machen, dass originelle Leistungen in der Wissenschaft nur durch harte Arbeit, Begeisterung und innerem Antrieb erreicht werden können, gewissermaßen nach dem "Wallace-Prinzip der Eigeninitiative und Freidenker-Mentalität".

Danke für das Gespräch.

Die Fragen stellte Carsten Frerk.

 

Ulrich Kutschera ist seit 1993 Inhaber des Lehrstuhls für Pflanzenphysiologie und Evolutionsbiologie an der Universität Kassel und zusätzlich seit 2007 als Visiting Professor an der Kalifornischen Stanford University tätig. Im Januar 2013 wurde er, in Anerkennung seiner Leistungen als Forscher und Buchautor, in die englischsprachige Wikipedia-Enzyklopädie aufgenommen.
 

Literatur zum Thema Charles Darwin und Alfred Russel Wallace:

Ulrich Kutschera: Evolutionsbiologie. 3. Auflage. Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart, 2008, 312 Seiten, 202 Abb., gebunden, 39,80 €. ISBN-Nr.: 978-3-8001-2851-8.

Das Buch ist auch im denkladen erhältlich.

YouTube Kanal des AK Evolutionsbiologie.