(hpd) Der rechtspolitische Korrespondent von „Kölner Stadtanzeiger“ und „taz“, Christian Rath, legt eine kritische Kommentierung der Rolle des Bundesverfassungsgerichts im politischen Gefüge der Bundesrepublik Deutschland vor. Auf engem Raum gelingt dem Autor kenntnisreich und verständlich eine differenzierte und sachliche Erörterung zum Thema, die Kenner wie Laien mit Gewinn lesen können.
Karlsruhe ist Kult - damit ist das Bundesverfassungsgericht, nicht unbedingt die Stadt gemeint. Blickt man auf Meinungsumfragen zur Beliebtheit von staatlichen Institutionen, so nimmt das Gericht ebendort seit Jahren mit Abstand den ersten Platz ein. Bundestag und Bundesregierung folgen danach weit abgeschlagen. Das offenkundig hohe Ansehen und die scheinbare politische Neutralität erklärten mit, warum auch aus intellektueller und wissenschaftlicher Sicht nur wenig Kritik am Bundesverfassungsgericht geübt wird. Doch in einer pluralistischen Demokratie und offenen Gesellschaft darf es auch und gerade gegenüber einer so beliebten und geschätzten Einrichtung nicht an Reflexion und Skepsis fehlen. Dazu lädt das schmale Bändchen „Der Schiedsrichterstaat. Die Macht des Bundesverfassungsgerichts“ mit noch nicht einmal hundert Seiten ein. Es stammt aus der Feder des promovierten Juristen Christian Rath, der als rechtspolitischer Korrespondent für den „Kölner Stadtanzeigers“ oder die „taz“ arbeitet.
Gleich zu Beginn betont er, dass Karlsruhe das Grundgesetz auslege, dabei aber sehr wohl auch Politik betreibe. Dem Bundesverfassungsgericht kommt gar eine besondere Macht zu. Als Institution ist es in einer Demokratie auch nicht die Normalität. Gut die Hälfte der demokratischen Staaten der Welt kennt kein eigenes Verfassungsgericht. Und nur in wenigen Fällen verfügt es über so viel Einfluss. Denn, so formuliert Rath ebenso knapp wie salopp: „Deutschland weiß erst, wo’s langgeht, wenn Karlsruhe gesprochen hat“ (S. 9).
Nach einigen Ausführungen zu Entwicklung und Funktion des Bundesverfassungsgerichts erläutert der Autor, wie es direkt oder indirekt als Zwitter agiert: „Einerseits ist es Gericht, anderseits politisches Organ“ (S. 19). Denn man beschränkt sich keineswegs auf die Entscheidung konkreter Fälle. Rath macht anschaulich die weiteren Einflussmöglichkeiten deutlich: Sie reichen vom Gestaltungsspielraum bei der Auslegung von Gesetzen über Regelungen zum Verfahren bei bedeutenden Urteilen bis zu öffentlichen Stellungnahmen der Richter.
Die Autorität und Beliebtheit des Bundesverfassungsgerichts erklärt sich der Autor nicht nur durch formale Aspekte wie die Verankerung im Grundgesetz. Im öffentlichen Meinungsbild seien andere Faktoren wie die scheinbare Distanz von der Politik oder die gemeinsame Konfliktlösung durch Konsens, aber auch die Fähigkeit zu unpopulären Urteilen oder der Schutz von Minderheitenrechten bedeutsamer. Gleichwohl gilt Karlsruhe als eine dienende Macht, denn: „Deutschland ist ... ein Schiedsrichterstaat. Die Verfassungsrichter sind zwar die mächtigen Schiedsrichter – handeln müssen aber vor allem die anderen, also Parlament und Regierung“ (S. 53). Das Gericht engagiere sich für die Offenheit des politischen Prozesses, was zugleich Demokratie und Zivilgesellschaft unterstütze. In der Gesamtschau ist das Bundesverfassungsgericht für den Autor „ein erfolgreicher Dreh- und Angelpunkt der deutschen Demokratie. Es hält der Politik meist den Rücken frei, bindet Kritiker ein und sorgt gelegentlich für verfassungsrechtliche Innovationen“ (S. 69).
Diese Einschätzung macht deutlich, dass es Rath nicht um eine billige Polemik gegen eine beliebte Einrichtung geht. Ebenso gut verständlich wie überaus sachkundig äußert er sich zu den genannten Inhalten. Allenfalls hätte man sich noch Ausführungen zu Auswahl und Motivation der Richter gewünscht. In seinem Buch gelingt es Rath, auf engem Raum die Kerninhalte ebenso differenziert wie zugespitzt zu vermitteln. Insofern hat man es auf der rein formalen Ebene mit einem idealen Sachbuch zu tun. Die ausgewogene, aber nicht positionslose Sicht prägt auch Raths rechtspolitische Kommentare in Zeitungen. Folgender Satz aus der Einleitung des Buchs spricht auch nicht dagegen: „Doch der Schiedsrichtersaat passt zu Deutschland – zu einem Land, das schon immer mit Demokratie und Pluralismus gefremdelt hat. Das Bundesverfassungsgericht befriedigt und kanalisiert das Bedürfnis nach dem guten, strengen Fürst“ (S. 8). Dies klingt polemisch und übertrieben. Gleichwohl lädt dieser Kommentar auch zu Reflexionen über bedenkliche Motive des Karlsruhe-Kults ein.
Armin Pfahl-Traughber
Christian Rath, Der Schiedsrichterstaat. Die Macht des Bundesverfassungsgerichts, Berlin 2013 (Verlag Klaus Wagenbach), 95 S., 14,90 €.