(hpd) Gabriel García Márquez hätte sich die Geschichte nicht besser ausdenken können. Doch sie scheint wahr. Alles ist möglich in einem Kontinent, in dem der Surrealismus nach dem Empfinden mancher ihrer Bewohner nicht erfunden werden musste, weil er Realität ist. Ein Mädchen wächst unter Affen auf, wird Straßenkind, Haussklavin in einem Bordell und bei einer Mafia-Familie. Das Erstaunlichste: Es geht gut aus.
Ist das möglich, fragten „The Guardian“, zahllose britische Fernsehmoderatoren zusammen mit Psychologen Ende letzten Jahres, als das Buch auf Englisch erschien. Eine Antwort können jetzt auch die deutschen Leser suchen, nachdem Marina Chapmans Geschichte unter dem Titel „Das Mädchen, das aus dem Dschungel kam. Eine Kindheit unter Affen“ nun auch bei Rowohlt erschienen ist.
Aufgeschrieben hat sie eine der beiden Töchter der mittlerweile über 60-Jährigen, die heute mit ihrer Familie in London lebt. Bearbeitet wurde sie von der britischen Autorin und Ghostwriterin Lynne Barrett-Lee. An die ersten vier oder fünf Lebensjahre vor ihrer mutmaßlichen Entführung erinnert sich Marina Chapman fast gar nicht. Auch nicht an ihren Geburtsnamen. Dafür umso genauer an die folgenden etwa fünf Jahre, die sie mit einer Horde Kapuzineraffen verbrachte.
Nicht, dass die Affen das Kind umsorgt oder umhegt hätten. Ausgesetzt mitten im Dschungel, hält es sich vielmehr mit aller Überlebensenergie an die Affenhorde als die einzigen Wesen, die ihm irgendwie ähnlich sind, und versucht verzweifelt, den Anschluss an sie nicht zu verpassen. Das ist nicht einfach, denn die Äffchen verbringen die meiste Zeit hoch oben auf den Bäumen. Und so wird es Marinas größte Herausforderung und Stolz, selbst bis in die Wipfel der tropischen Baumriesen klettern zu lernen wie sie. Zum Beweis ihrer Wahrhaftigkeit erklimmt die kleingewachsene Frau, sie ist nur 1,44 m groß und inzwischen mehrfache Großmutter, vor laufenden Fernsehkameras immer noch mit Leichtigkeit flink 30 Meter hohe englische Baumwipfel (Video in Englisch.).
Das Kind isst, was die Affen essen, und lernt so, giftige von ungiftigen Früchten zu unterscheiden. Die Kapuzineräffchen dulden es, und irgendwann beginnen sie, es als Mitglied ihrer Gruppe zu betrachten. Sie groomen es, warten auf es, wenn es drunten am Boden mit ihrer Affengeschwindigkeit nicht mithalten kann. Und Marina Chapmann ist überzeugt, dass ein altes Affenmännchen ihr nach einer Vergiftung den Weg zu einem Schlammloch gewiesen und sie darin eingetaucht hat, damit sie mit dem Schlamm auch den schädlichen Mageninhalt wieder von sich gab, sie also geheilt habe. Ja, dieses Ereignis wird zur eigentlichen Initiationsszene für ihr Familienleben unter Affen.
Die Kleine verlernt gänzlich zu sprechen. Es treiben sie dieselben Impulse voran wie die Affen: der Hunger und die Neugier. Beides braucht keine Sprache. Und alles, was sie allein unter Affen so denkt, offenbar auch nicht. Auch das nicht: In einer Spiegelscherbe entdeckt sie ihr Gesicht. Eines wie das der Wesen, die sie gelegentlich am Waldesrand erblickt und von denen sie immer wieder vertrieben wird, und es zieht sie fortan unwiderstehlich zu den Menschen. Es sind immer wieder Frauen, die ein Minimum an Empathie für sie verspüren. Doch Marinas Erwartung wird ein um das andere Mal brutal enttäuscht. Für einen Papagei wird sie an ein Bordell verkauft, wo die mittlerweile Zehnjährige Fußböden und Teller schrubbt. Sie flieht, wird Straßenkind. Um Arbeit bettelnd, gelangt sie an eine Mafia-Familie, die sie ernährt wie einen Hund und arbeiten lässt wie eine Erwachsene.
Eine mitleidige Nachbarin ermöglicht die Flucht zu Verwandten in der Hauptstadt Bogota. Fortan ist Marina sicher. Und sie macht ihren Weg.
Natürlich fragten Zweifler, wie es möglich ist, dass Marina fast alle Erinnerungen an seine frühsten Jahre abhanden gekommen sind. Woher weiß sie dann heute, wie lange sie im Dschungel lebte? Für alles gibt es plausible Antworten. Der Schock ließ sie alles vorher Erlebte vergessen. An der Länge, auf die ihre Haare gewachsen waren, als sie wieder unter Menschen kam, lässt sich die Zeit, die sie im Dschungel verbrachte, ermessen.
Trotzdem umgibt die Geschichte eine Aura des Märchenhaften, ja des Mythischen. Schließlich läuft sie gerade nicht auf die Einheit von Tier- und Menschenwelt hinaus. Das kleine Mädchen zieht es, nachdem es einen Blick auf sich selbst hat werfen können, also nach dem geradezu symbolischen Akt der Selbsterkenntnis, zu seinesgleichen, den Menschen. Auch wenn diese sich dann erst einmal nicht als gut, in nur sehr wenigen Momenten als mitfühlend und damit als gleichgültiger als die Affen erweisen, vielmehr immer wieder als gefühllos und grausam.
All das erzählt Marina Chapmann gänzlich unsentimental und so, als würde es sich um die normalsten Dinge der Welt handeln. Empörung und Zorn können den Leser packen darüber, wie gering das Leben und die Würde von Straßenkindern in Lateinamerika geschätzt wird. Aber auch Staunen über den Überlebenswillen eines ungewöhnlich starken Menschen und die Wahlverwandtschaft zwischen einem verlassenen Kind und einer Gruppe von Affen.
Simone Guski
Marina Chapman: „Das Mädchen, das aus dem Dschungel kam. Eine Kindheit unter Affen.“ ISBN 9738 3 499 61459 0 , rowohlt POLARIS, Hamburg 2013, 317 Seiten, 16 Fotos, 14,99 Euro.