"Für mich war das immer mehr wie eine Geburt"

BERLIN. (hpd/dhgs) Die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) stellt ihre aktuelle Zeitschrift unter das Thema „Allein mit den letzten Gedanken?“ Ärzte reden über Selbstbestimmung. Was antworten die Parteien auf die Wahlprüfsteine? Diskussion mit einem Palliativmediziner. Sterbehilfe in Belgien.

„Das Vertrauen ins belgische Gesundheitssystem ist gestiegen“. Das meint der belgische Arzt Professor Jan Bernheim, und erläuert, warum für ihn Palliativpflege und die Möglichkeit der aktiven Sterbehilfe zusammen gehören.

Seit mehr als 30 Jahren beschäftigt sich der Onkologe Jan Bernheim mit Sterbehilfe und Palliativpflege. Er gilt als Begründer des „Belgischen Modells“, das in der integrativen Palliativpflege die in Belgien so genannte „Euthanasie“ beinhaltet -  in den Beneluxländern gesetzlich als Tötung auf Verlangen definiert. Seit 2002 ist dies in Belgien gesetzlich reguliert. Derzeit wird diskutiert, diese Regelung auf Demenzkranke und Jugendliche auszuweiten.

BeispielbildInterview Bernheim / Fotos: Oliver KirpalHLS: Professor Bernheim, in den Beneluxländern wird das Wort „Euthanasie“ für aktive Sterbehilfe, also Tötung auf Verlangen, verwendet. In Deutschland haben wir, historisch bedingt, Probleme mit diesem Begriff.

Bernheim: Das kann ich sehr gut verstehen, aber in der Benelux-Euthanasie ist dies völlig anders. Die Nazi-„Euthanasie“ war der Gegensatz zu unserer: vollkommen unerwünscht. Dennoch würde ich diesen Begriff, der aus dem Griechischen kommt und „friedlicher Tod“ bedeutet, gern verwenden, da er, wie in den Benelux-Ländern gesetzlich definiert, für mich präziser ist, als der weit gefasste Begriff Sterbehilfe, der ja vier Formen umfasst.

Also gut, benutzen wir diesen Begriff im Gespräch. Wann haben Sie sich eigentlich das erste Mal mit Palliativmedizin und Sterbehilfe beschäftigt?

1979, ich war Onkologe am Brüsseler Bordet-Krebsinstitut. Wir betreuten dort  auch britische Patienten, die uns darauf hinwiesen, dass wir vielleicht gute Onkologen seien, aber was Palliativmedizin und Schmerzbehandlung anging, primitiv (lacht). Kurze Zeit später ging ich nach London und Birmingham und kam sehr beeindruckt zurück. Wir gründeten eine Palliativpflegeorganisation und eine europäische Forschungsgruppe für Lebensqualität. In Großbritannien wurde die Palliativpflege gegründet, um Euthanasie zu behindern, in Belgien, da wir Euthanasie wegen Mangel an Palliativpflege als unethisch ansahen, um Euthanasie möglich zu machen. Mit den Jahren entwickelte sich unsere Bewegung „Lebensqualität am Lebensende“ immer weiter. Jetzt erhält die Hälfte aller Sterbefälle Palliativpflege.

Was hat sich seitdem verändert – sind die Euthanasie-Zahlen enorm gestiegen?

Nicht besonders, von ein auf zwei Prozent der Todesfälle. Zugleich haben sich aber die Zahlen der Lebensverkürzungen ohne expliziten Wunsch halbiert. Man geht mehr auf die Wünsche des Patienten ein und wartet nicht mehr, bis er bewusstlos geworden ist. Früher war dies häufig unwürdiger, da es heimlich geschah, ohne dass Familie und Angehörige etwas davon wussten. Heute wird die „totale“ Palliativpflege stärker in Anspruch genommen. Das Vertrauen ins belgische Gesundheitssystem ist nach der Verabschiedung des Euthanasie-Gesetzes bis über 90 Prozent gestiegen. Nur in Island ist es höher.

Gibt es in Belgien viele Gegner?

Nicht mehr. Ich habe den Eindruck, dass das Gesetz auf Ärzte und Patienten befreiend wirkt. Liberale, Sozialisten, Grüne und sogar Politiker rechts vom Zentrum – keiner möchte das Gesetz mehr rückgängig machen. Debatten gibt es heute eher in der Hinsicht, ob man das Gesetz ausweiten sollte auf kompetente Jugendliche und Demente, die früher, als sie noch entscheidungsfähig waren, Euthanasie verlangt hatten.

An welchen Orten wird die Euthanasie ausgeübt?

In Belgien geschieht diese zu beinahe 50 Prozent zu Hause, in den Niederlanden sind es sogar über 70 Prozent.

Wie stehen die Ärzte dazu?

In Frankreich sind 60 Prozent für Euthanasie, in den Niederlanden 90 Prozent, in Belgien 80 Prozent.

Rundherum also eine Entwicklung, die Ihnen zusagt?

Ja, aber die Euthanasie wird nicht überall in Belgien umgesetzt. Es gibt noch Ärzte und Krankenschwestern, die aus persönlichen, religiösen und ideologischen Gründen keine Euthanasie leisten. Das wird aber respektiert.

Was macht der Patient in einer solchen Situation?

Meistens erhält er eine Palliativsedierung. Manchmal bekommt er einen anderen Arzt oder wird in ein anderes Krankenhaus verlegt.

Wissen denn alle Ärzte, wie Euthanasie funktioniert?

Die meisten belgischen Ärzte haben noch keine Erfahrung mit Euthanasie. Dazu stehen ihnen ehrenamtliche Ärzte und Krankenschwestern des Forums für Information über das Lebensende zur Verfügung.

Wie viele Menschen nutzen die Möglichkeit, ihr Leben vorzeitig beenden zu lassen?

Auf alle Sterbefälle gibt es in vier Prozent eine Euthanasie-Anfrage, und die Hälfte davon wird „erhört“. Interessanterweise leben Krebspatienten, die um die Möglichkeit der Euthanasie gebeten haben, vermutlich länger. Sie fühlen sich in der Palliativpflege gut, konzentrieren sich auf glückbringende Momente und sind weniger gestresst.

Funktioniert der vom Gesetz vorgeschriebene Ablauf der Euthanasie reibungslos?

Nicht ganz. Die Anzahl der Euthanasie-Meldungen ist ansteigend, aber noch niedriger als die der Fälle. In Belgien melden die Ärzte die Euthanasie leider nicht so diszipliniert wie in den Niederlanden.

Können Sie sich das erklären?

Ich vermute, es liegt an den kulturellen Unterschieden. Die Niederländer sind protestantisch geprägt, sehr genau und gründlich, wir Belgier sind da etwas nachlässiger (lächelt). In den Niederlanden bleiben 70 Prozent der Euthanasiefragen unerfüllt, in Belgien nur 50 Prozent.

Was wünschen Sie sich für die weitere Entwicklung?

Dass die Palliativsedierung (15 Prozent der Sterbefälle) genauso kritisch hinsichtlich der Ethik beleuchtet wird wie die Euthanasie. Zuviele Ärzte lassen ihre bewusstlos geworden Patienten zum Beispiel dehydrieren. Der Tod zieht sich also über viele Tage hin, und die Familie ist erschöpft. Ist das nicht fragwürdig?

Sie waren Mitte April bei unserer Diskussionsveranstaltung an der Berliner Technischen Universität Podiumsgast. Dort wehrte sich Theodor Windhorst  vehement gegen den ärztlich begleiteten Suizid.

Herr Windhorst sagte, dass es in Deutschland keine Probleme hinsichtlich schwerer Krankheiten gäbe, da die Palliativmedizin dies gut regele. Ich hatte den Eindruck, dass er nicht so sehr mit der aktiven Sterbehilfe an sich ein Problem hatte, sondern damit, dass dieses Thema in die Öffentlichkeit getragen wurde. So war es bei uns in den 1980er Jahren. Viele Ärzte übten Sterbehilfe aus, wollten aber nicht, dass sich der Staat dabei einmischt.

Wie sollte Ihrer Ansicht nach bei uns mit dem Thema umgegangen werden?

Ich kenne Deutschland leider nicht gut genug, um dies beurteilen zu können. Ich denke aber, dass ein Verbot unliberal ist. In einer modernen Gesellschaft sollte respektiert werden, dass es unterschiedliche Positionen gibt.

Kleiner Ausblick in die Zukunft?

Es verhält sich ähnlich wie die Errungenschaften der Geburtenregelung, der assistierten Fortpflanzung und der Schwangerschaftsunterbrechung, die auch von unserer Brüsseler Universität vorangetrieben wurden. Wenn es so weitergeht, werden die Menschen weniger leiden und freier sein.

Haben Sie eigentlich jemals selbst aktive Sterbehilfe geleistet?

Ja, auch in der Zeit, als es illegal war. Es war für mich immer eher wie eine Geburt als eine Schwangerschaftsunterbrechung.
 

Professor Bernheim, danke für das Gespräch.

Das Interview führte HLS-Redakteurin Katja Winckler M. A.

Erstveröffentlichung in der Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) „Humanes Leben – Humanes Sterben“ (HLS).