(hpd) Hochbegabung zeigt sich nicht unbedingt in einem Einser-Abi, einem Doktortitel, atemberaubendem Klavierspiel oder dem Wimbledon-Sieg. Auch Multitalente können hochbegabt sein. Ebenso hochsensible Menschen. Die Psychologin Andrea Brackmann beschreibt das Phänomen ausführlich, verständlich und praxisnah.
In der Reihe „Leben lernen“ (moderne Psychotherapie auf wissenschaftlicher Grundlage) des Klett-Cotta-Verlages erschien dieses interessante und lesenswerte Buch. Nachdem bereits in den 1990er-Jahren das Thema Hochbegabung bei Kindern ins Augenmerk der Öffentlichkeit kam, weitet sich seit etwa zehn Jahren der Fokus auch auf Erwachsene aus.
Im vorliegenden Buch wird ein großer Bogen von hochbegabten Kindern und Jugendlichen bis zu Erwachsenen gespannt. Dabei wendet sich die Autorin sowohl an Ausübende der psychotherapeutischen Berufe als auch an interessierte Laien bzw. selbst von Hochbegabung betroffene Erwachsene. Der Ausdruck „Betroffene“ macht klar, dass es nicht nur ein Vorteil ist, besonders begabt und intelligent zu sein, sondern sich daraus auch z.T. gravierende Probleme ergeben können.
Was in der Öffentlichkeit weniger bekannt ist: Hochbegabt sind offensichtlich nicht nur die herausragenden Talente, sondern oft relativ unauffällige Menschen, die sich selbst nicht als hochbegabt einschätzen und dennoch an den negativen Auswirkungen wie z.B. einer besondere Empfindlichkeit der Sinnesorgane (Licht, Lärm, taktile Überempfindlichkeit) oder einem Grundgefühl, „jenseits der Norm zu sein“ leiden. Ein relativ häufiges Phänomen sei - so die seit Jahren mit Hochbegabten arbeitende Psychotherapeutin - , dass sie hochkomplexe intellektuelle Aufgaben – besonders ihrer Interessensgebiete – spielerisch bewältigen könnten, während einfachste Alltagsaufgaben wie Addieren, Logistik im Haushalt oder die Organisation einer Reise zum Desaster werden könnten.
Brackmann widmet sich zunächst der Hochbegabung bei Kindern, indem sie acht verschiedene Typen vom „sensiblen Träumer“ bis zur „Unbeirrbaren“ charakterisiert, wobei es auch Überschneidungen geben könne. Auch wenn diese Beschreibungen zunächst plakativ erscheinen, illustrieren sie sehr anschaulich das Wesen von Hochbegabung. Die Autorin beschreibt die soziale und emotionale Entwicklung in den einzelnen Lebensphasen und erläutert auch die Charakteristik bei hochbegabten Erwachsenen mit Typenbeschreibungen, die vom „Zerstreuten Professor“ bis zum „Nonkonformisten“ reichen.
Wenn sich bei Kindern durch die Hochbegabung – zusammen mit anderen Faktoren – psychische Probleme ergeben, ist es oft mit dem Überspringen einer Klasse nicht getan. Brackmann hat einen detaillierten und vernünftig klingenden therapeutischen Ansatz, der auch Elternberatung mit einbezieht. Die Behandlung von hochbegabten Erwachsenen bezieht sich auf Störungen wie Depressionen, Angsterkrankungen, Leistungsstörungen, Prüfungsangst, Sprechangst und soziale Phobie.
Horizonterweiternd sind ihre Kapitel über Zusammenhänge zwischen autistischen Störungen wie Aspergersyndrom und Hochbegabung oder auch Borderline-Störung und Hochbegabung. Brackmann zeigt Ähnlichkeiten in der Symptomatik auf und eröffnet damit neue therapeutische Ansätze.
Die Autorin schließt mit: "Es bleibt zu hoffen, dass dieses Buch einen Beitrag dazu leisten kann, Hochbegabte besser zu erkennen und zu verstehen. Da es bis dahin, wie ich fürchte, noch ein langer Weg ist, hoffe ich vor allem, dass viele Hochbegabte sich in den Schilderungen dieses Buches wiederfinden und genügend Mut aufbringen sich zu ihrem Anderssein zu bekennen und es fruchtbar zu nutzen."
Das ist dem Buch und den Hochbegabten auch zu wünschen.
Katharina Micada
Andrea Brackmann, Jenseits der Norm - hochbegabt und hoch sensibel?, Klett-Cotta, ISBN: 3608890143, 24,95 Euro.