Kritik Israels mit jüdischer Ethik?

(hpd) Die Philosophin Judith Butler versucht in ihrem Buch eine jüdische Ethik zur Kritik der israelischen Palästinenserpolitik zu entwickeln. Während ihre Rekurse auf jüdische Denkerinnen und Denker des 20. Jahrhunderts von Bedeutung sind, bleibt sie bei der Betrachtung des Israels der Gegenwart all zu platt ihrer „Schwarz-Weiß-Perspektive verhaftet.

Kann eine Kritik an der Außenpolitik des Staates Israel nicht auch auf Basis einer besonderen jüdischen Ethik erfolgen bzw. wäre sie nicht sogar deren notwendiges inhaltliches Gebot? Diese Frage stellt sich Judith Butler, die als eine der einflussreichsten Philosophin der Gegenwart gilt und wegweisende Beiträge zur Geschlechterforschung vorgelegt hat. Man warf der Professorin für Rhetorik und Komparatistik an der University of California, Berkeley aber auch vor, mit ihrer scharfen Kritik an der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern antijüdisch oder antisemitisch zu sein.

Beispielbild
Judith Butler / Foto: Jerry Bauer
Die von russischen und ungarischen Juden abstammende Butler hatte indessen selbst eine jüdische Schule besucht und Unterricht in jüdischer Ethik genommen. Die dabei gewonnenen Einsichten bemüht sie nun mit späteren Kenntnissen, um gegen die Behauptungen eines Antisemitismus in ihrer Israel-Kritik anzuargumentieren und eben diese aus den Positionen prominenter jüdischer Denkerinnen und Denker des 20. Jahrhunderts inhaltlich abzuleiten.

Gebündelt finden sich ihre Auffassungen in dem Buch „Am Scheideweg. Judentum und Kritik am Zionismus“. Bereits auf der ersten Seite der Einleitung formuliert sie darin ihr Anliegen wie folgt: „Sollte es mir gelungen sein zu zeigen, dass man zur Kritik der staatlichen Gewalt, der kolonialen Unterdrückung von Bevölkerungsgruppen, der Vertreibung und Enteignung auf jüdische Quellen zurückgreifen kann, dann habe ich damit zugleich zeigen können, dass eine jüdische Kritik der von Israel ausgeübten staatlichen Gewalt zumindest möglich, wenn nicht sogar ethisch geboten ist. Wenn ich ferner zeigen kann, dass durchaus jüdische Werte der Kohabitation oder des Zusammenlebens mit Nicht-Juden zum ethischen Kernbestand des Diaspora-Judentums gehören, dann lässt sich sogar daraus auch ableiten, dass die Verpflichtung auf soziale Gleichstellung und soziale Gerechtigkeit integraler Teil säkularer, sozialistischer und religiöser jüdischer Traditionen ist“ (S. 9). Nach Butler verlangen wesentliche jüdische Überlieferungen gar Kritik und Widerstand.

Sie nimmt indessen keine Analyse und Interpretation der theologischen Grundlagenschriften des Judentums wie etwa dem Talmud vor. Vielmehr stehen im Zentrum ihres Buches Abhandlungen zu ganz unterschiedlichen jüdischen und nicht-jüdischen Autorinnen und Autoren wie Hannah Arendt, Walter Benjamin, Primo Levi und Emmanuel Lévinas sowie Mahmoud Darwish und Edward W Said.

Mit Rekursen auf diese Personen und deren Werke will Butler eine Art neue jüdische Ethik in Frontstellung zum politischen Zionismus entwickeln. Dabei betont sie zum einen, dass eine Art „Übersetzung“ vom jüdischen ins universelle, vom religiösen ins politische Denken vorgenommen werden müsse. Außerdem verdeutlicht die Autoren, dass für die Akzeptanz derartiger Auffassungen von Gerechtigkeit, Gleichheit, Kooperation und Staatskritik auch die Erinnerung an die jüdische Diaspora von herausragender Bedeutung sei. Gerade aus dem früheren Miteinander von Juden und Nicht-Juden im Exil ergebe sich eine Basis für die Ethik der „Kohabitation“ mit den Palästinensern.

Butlers Buch beeindruckt dort, wo sie sich mit den Auffassungen der genannten Denkerinnen und Denker differenziert und kenntnisreich auseinandersetzt. Sie macht indirekt auch durch ihre inhaltliche Argumentationsweise deutlich, dass man ihr gegenüber den Vorwurf des Antisemitismus nur schwerlich erheben kann. Gleichwohl nimmt sie auch in diesem Buch eine einseitige und rigorose Grundauffassung gegen Israel ein, wobei erneut die andere Seite der Konfliktlinie in Gestalt der Palästinenser nahezu vollständig ausgeblendet wird.

Gleichzeitig argumentiert Butler gegen den Zionismus, wobei unklar ist, was sie im eigentlichen Sinne damit meint. Immerhin handelt es sich um die Legitimationsgrundlage für die Existenz des Staates Israel. Auf dessen Basis ist sehr wohl eine Kohabitation mit den Palästinensern in Anerkennung und Gleichberechtigung möglich, während die Autorin zwischen diesen beiden Punkten offenbar eher einen unüberwindbaren Gegensatz sieht. So verharrt Butler denn auch hier weiterhin in ihrem „Schwarz-Weiß“-Denken.

Armin Pfahl-Traughber

Judith Butler, Am Scheideweg. Judentum und die Kritik am Zionismus, Frankfurt/M. 2013 (Campus-Verlag), 277 S., 28,90 Euro.