Die DDR und der Humanismus

WEIMAR. (hpd) Der Kulturwissenschaftler Horst Groschopp, langjähriger Hochschullehrer an der Berliner Humboldt-Universität und von 2003 bis 2009 Präsident des Humanistischen Verbandes Deutschland (HVD), hat mit dem jetzt vorgelegten Buch „Der ganze Mensch“ eigene Studien aus den Jahren 1989-1993 zur Kulturgeschichte der DDR wieder aufgegriffen und vertieft. Ein wertvolles und notwendiges Buch.

Entstanden ist ein überaus profundes Werk über das ostdeutsche bzw. DDR-Kulturkonzept, das auf Debatten in den Jahren 1933 bis 1945 basierte: Die zum einem im Pariser Exil bürgerlicher, sozialdemokratischer und kommunistischer deutscher Antifaschisten stattfanden sowie dann später auch unter deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion.

Groschopp hat in seinem Buch eine solche Fülle von Namen und Fakten zusammengetragen, so dass man mit Fug und Recht von einem Nachschlagewerk sprechen kann. Ein Werk, das hilft, kulturpolitische Entwicklungen – Fortschritte, aber auch Brüche – besser nachvollziehen zu können.

Beim Schreiben dieses Buches ließ sich Groschopp von solchen Fragen leiten: War die DDR ein humanistisches Land? Denn die DDR war wohl der einzige Staat weltweit, der den Begriff Humanismus in seiner Verfassung verankert hatte. Was unterschied den DDR-Humanismus vom konservativen Humanismus-Begriff, wie er noch heute in der Bundesrepublik gültig ist? Worin bestand der spezifisch deutsche „Kultursozialismus“ von Walter Ulbricht und Alfred Kurella? Und weshalb musste dieser letztlich scheitern?

Zu Walter Ulbricht (1893 - 1973) schreibt Groschopp: „So kam dann, dass 'Humanismus' in der DDR aus der Gedankenwelt einiger Gelehrter und Pädagogen in die Gesellschaft hinein sich ausbreitete. Wohl in keinem Land wurde darüber so lange, breit, intensiv und hochpolitisch diskutiert, die Bevölkerung, die Schulen, die Betriebe und die Freizeit erreichend. (…) Walter Ulbricht war der große Verfechter einer Verbindung von Sozialismus mit einem Humanismus, wie er ihn verstand und wie er ihn den Zeiten Volksfront vor dem Zweiten Weltkrieg in Paris und in besonderem Kontakt mit Heinrich Mann (1871 – 1950) lernte...“ (S. 18)

Der Ausgangspunkt für die Humanismuskonzepte von KPD/SED und in der SBZ/DDR „liegt in einer zeitlich kurzen und personell begrenzten Humanismus-Debatte 1932/33. Den Anlass bildeten die humanistischen Frühschriften aus den Jahren 1843/44 von Karl Marx (1818-1883), damals nur Experten bekannt. (…) 'Marx [so Herbert Marcuse; SRK] nennt mehrfach … den positiven Kommunismus, der die Aufhebung der Entfremdung und Verdinglichung leistet, Humanismus' (…) Ähnlich fortwirkend ist die zeitgleiche Sicht von Alfred Kurella (1895 – 1975) auf 'sozialistischen Humanismus', dann 1936/39 in Moskau ausgearbeitet und schließlich nach 1957 in die DDR innoviert.“ (S. 19/20)

Groschopp hat sein Buch zwischen Einführung („Humanismus und Herrschaft der SED) und Schluss („Wie humanistisch war die DDR?) in sieben Kapitel gegliedert, auf die genauer einzugehen den Rahmen dieser Rezension sprengen würde. Denn, wie oben bereits gesagt, die gebotene Materialfülle ist immens. Abgerundet wird diese Arbeit mit einer Übersicht über den „Verlauf der Verfassungsdebatten in der SBZ/DDR 1946 – 1949 und 1967/68“.

Im ersten Kapitel „Weichenstellungen in Deutschland“ geht es um Humanismus und Verfassungsdenken, den Begriff 'Wahre Humanität' in der DDR-Verfassung von 1949 und Gegenläufiges im Westen ('Abendländischer Humanismus').

Hierin konstatiert Groschopp etwas sehr Bemerkenswertes, das auch noch für heutige gesamtdeutsche Debatten von Relevanz sein dürfte:

„Bei der fortdauernden Rückwärtsgewandtheit spielte auch eine wichtige Rolle, dass die Kirche in allen vier Besatzungszonen von einer tatsächlichen Entnazifizierung verschont blieb. (…) Im Osten wirkte zunächst die in der Sowjetunion gewachsene besondere Vorstellung der SMAD über das Staat-Kirche-Verhältnis begünstigend auf die Wiederbelebung kirchlichen Lebens – bei politischer Enthaltsamkeit. 'Die sowjetischen Kirchenoffiziere [so zitiert Groschopp aus Greschat: Protestantismus im Kalten Krieg] brachten aus ihrer Heimat die Vorstellung mit, dass die Kirche sich auf die Wahrnehmung pastoraler Handlungen beschränkte, karitative Tätigkeiten nur im Ausnahmefällen ausübte und sich zu politisch-gesellschaftlichen Fragen eigenständig überhaupt nicht äußerte.“ (S. 52) Ein teilweise Irrglaube, wie er auch heutzutage von nicht wenigen DDR-sozialisierten Links-Politikern gepflegt wird.

Aber so Groschopp: „Die Kulturvorstellungen der SED wirkten besonders in Arbeits- und Bildungsprozesse sowie in das ganze Rechtssystem hinein. Das neue gesellschaftliche System trat den Bürgerinnen und Bürgern weniger als Konzept, sondern ganz praktisch als zu bewältigende Lebensumstände entgegen. Das führte auf Dauer zu Einstellungsänderungen. Gerade diese Zwänge – die, das darf nicht übersehen werden, von einer Mehrheit auch als Befreiung erlebt wurden von kirchlichen und religiösen Zumutungen – beförderten den massenhaften, staatlicherseits willkommenen Kirchenaustritt. Christen und ihre Kirchen sahen und sehen dies anders. Das liegt in der Natur solcher Prozesse.“ (S. 52/53)

Das zweite Kapitel „Vorgeschichten“ wendet sich mit dieser Frage Karl Marx (und vielen seiner Interpreten) zu: 'Humanismus' versus 'Realismus' – 'realer Humanismus'. Groschopp geht u.a. auf frühe Debatten in der jungen Sowjetrepublik und nach dem Scheitern der Ungarischen Räterepublik sowie im Pariser Exil ein. Hierfür stehen u.a. Namen wie der bereits erwähnte Alfred Kurella,  Eugen Varga (1879 – 1964), Georg Lukacs (1885 – 1971), Johannes R. Becher (1891 – 1958) und Klaus Mann (1906 – 1949). Letzterer gab in den Pariser Debatten eine Definition für den Begriff „sozialistischer Realismus“.

Den „Anfang der Verfassungsdebatte und Humanismus-Diskurse in der SBZ“ behandelt das dritte Kapitel. Hier geht es u. a. angesichts des Stalin'schen Terrors um die Frage „Humanismus und Terror“, ausgehend vom gleichnamigen Essay des französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty (1908 – 1961). Doch nach dem Überfall des faschistischen Deutschland auf die Sowjetunion stand dies im Vordergrund: „Humanismus gegen die Naziideologie“. Nicht nur kommunistische Exilanten wandten sich dieser Frage/Aufgabe zu. Auch in den Kriegsgefangenenlagern bekam das Thema Humanismus Auftrieb. Bereits frühzeitig machten sich hier Offiziere und teilweise auch Mannschaften Gedanken für ein besseres Nachkriegsdeutschland. Gemeinsamer Nenner für alle Anti- und Nichtfaschisten könne hier der Humanismus sein, so die überwiegende Meinung. Initiativ wurde hier Hauptmann Dr. Ernst Hadermann (1896 – 1968). An Debatten und der Ausarbeitung von Konzepten beteiligten sich auch kriegsgefangene Militärgeistliche wie Friedrich Wilhelm Krummacher (1901 – 1974). In diesem Zusammenhang kam es wohl zum ersten organisierten Dialog zwischen deutschen Kommunisten und Christen/Theologen. Und dies sollte Folgen haben.

„In der SBZ begann die SED mithilfe der sowjetischen Besatzung schon frühzeitig Staat und Kirche sowie Schule und Religion zu trennen. Sie vermied aber selbst in den frühen 1950ern, als die Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirchen einem 'Kulturkampf' glichen, ihre im NKFD 1944 gemachten Zusagen gänzlich zu revidieren. Das betraf vor allem zwei 'stille Abkommen'. Erstens wurde den Kirchenvertretern zugesagt, keinen neuen Freidenkerverband zu unterstützen. (…) Als im Frühsommer 1946 tatsächlich beim Zentralsekretariat der SED ein Antrag einging, eine neue Freidenkerorganisation zu gründen, wurde er prompt abgelehnt. (…) Die zweite Verabredung war zugleich eine Einschränkung, nämlich die Kultfreiheit der Kirchen.“ (S. 188/189) Das bedeutete in der Praxis, daß zu den „religiösen Aufgaben der Kirchen“ der Bildungsbereich nicht mehr gehörte – was also die reale Trennung von Kirche/Religion von der Schule bedeutete.

Mit den Humanismus-Konzepten, wie sie deutsche Exilanten und Kriegsgefangene erarbeitet hatten, begann nach dem 8. Mai 1945 in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands die Neuordnung aller Lebensbereiche. Für die erste Nachkriegs-Kulturkonzeption der KPD stehen vor allem der Name Anton Ackermann (1905 – 1973), der zentrale Kulturausschuss von KPD, SPD und FDGB und der Kulturbund zur demokratischen Erneuerung (später Kulturbund der DDR). Hier wurden entsprechende Vorschläge fürs SED-Parteiprogramm, für zahlreiche Gesetze vor allem im Bildungsbereich erarbeitet. Die nachfolgende Kulturpolitik von Partei und Staat wurde dann für mehr als 20 Jahre auch maßgeblich mitbestimmt von Alexander Abusch (1902 – 1982). Bereits 1946 begannen Vorarbeiten für eine neue Reichsverfassung, bzw. wie es seinerzeit korrekt hieß, für eine „Verfassung für eine demokratische deutsche Republik“. Alle Beteiligten gingen dabei von Gesamtdeutschland aus. Erst nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Grundgesetz wurde aus dem endgültigen Verfassungsentwurf eine „Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik“. Bereits im ersten Entwurf  fanden sich die Begriffspaare „echte Demokratie“ und „wahre Humanität“. Entworfen hatte den Entwurf, wie auch alle weiteren, der Jurist Karl Polak (1905 – 1963). Eingebracht in diese und spätere Debatten hat sich auch immer wieder Victor Klemperer (1881 - 1960)

Im vierten Kapitel geht es um den „Sozialistischen Umschlag der Humanismus-Debatte“, beginnend bereits 1947. Durch „neuen Humanismus“ sollte eine Erziehung zur Menschlichkeit erreicht werden. Hierfür steht ganz besonders der Reformpädagoge Heinrich Deiters (1887 – 1967).

Groschopp geht in diesem Zusammenhang ausführlich auf den weiteren Verlauf der Verfassungsdiskussion bis zum Sommer 1949 ein. Insbesondere auf die Arbeit des Ausschusses für Kulturpolitik und die darin agierenden Persönlichkeiten aus allen Parteien der SBZ, er nennt auch neben ihnen wirkenden Parteilosen und Theologen. Vieles wurde auch von den CDU-Vertretern mitgetragen, bis auf eines. So gab die CDU im März 1949 zu Protokoll: „Das Recht der Eltern auf die Erziehung der Kinder muss gewahrt werden, die Jugend in Ehrfurcht vor Gott, vor Alter und Erfahrung erzogen werden.“ (S. 280) Bis auf die „Erziehung in Ehrfurcht vor Gott“ gab es keinen Dissenz... Groschopp beleuchtet in diesem Kapitel auch die Kulturarbeit der Gewerkschaften und weiterer Organisationen.

Das fünfte Kapitel ist überschrieben mit „Humanismus und Begründung der DDR-Kulturpolitik“. Groschopp schreibt, dass zu den ersten Beschlüssen der ersten DDR-Volkskammer das Jugendgesetz vom 8. Februar 1950 gehört hat. Dieses bestimmte „die Erziehung der Jugend im Geiste wahrer Demokratie und eines echten Humanismus“. (S. 299)

Er geht auch auf die „Wirren“ nach Stalins Tod 1953 ein, in der Sowjetunion selbst und auch in der DDR (Formalismus-Debatte, „Tauwetter“).  So kam es 1957 zu neueren kulturellen Konzeptionsbildungen, für die neben Walter Ulbricht vor allem der inzwischen aus der Sowjetunion heimgekehrte Alfred Kurella steht. In dieser Zeit meldete sich in Sachen Humanismus nicht minder Wilhelm Girnus (1906 – 1985) zu Wort. Dieser forderte u.a. dass außereuropäische Kulturen nicht länger „Gegenstand der Spezialforschung“ sein, sondern in einen „Humanismus als einer allgemeinmenschlichen Lehre“ einfließen.

1960 kam es dann mit einem Aufsatz in der sowjetischen „Philosophischen Enzyklopädie“ zu einer offiziellen Humanismus-Definition. Groschopp erwähnt einen Abschnitt besonders: „Der Humanismus habe sich nicht nur in Westeuropa entwickelt. Humanistische Ideen, so zeige die neuere Forschung, schon früh bei den Völkern der UdSSR, des alten China und anderen Völkern des Ostens nachzuweisen. So entstand die Idee der 'Menschlichkeit' in China im 8. bis 12. Jahrhundert. Sie war gegen religiöse Normen des Buddhismus und Taoismus gerichtet. Humanistisches Denken in der Philosophie und der wissenschaftlichen Literatur lasse sich für Mittelasien, Georgien und Armenien im 10. bis 12. Jahrhundert aufzeigen, in Rußland im 15. und 16. Jahrhundert.“ (S. 361)

Wenn man neben dem bereits erwähnten (westlichen) Eurozentrismus auch die (oftmals unkritische und idealisierte) UdSSR-Zentriertheit seinerzeitiger sowjetischer Autoren wegläßt, dann kann man einer solchen Aussage auch heute noch zustimmen!

Kapitel 6 widmet sich den „Aufbau und Ende des 'Kultursozialismus'“. Nach 1961 nahm sich die DDR, so Groschopp, vor, die bessere Variante deutscher Kultur auszuprägen. Damit war keinesfalls die „sozialistische deutsche Nation“ gemeint, wie sie zehn Jahre später unter Erich Honecker propagiert wurde. Zu den seinerzeitigen Debatten schreibt der Autor u.a.:

„Am Schluss steht dann Kurellas Credo, das ihm in der DDR Programm wurde und woran er letztlich auch scheiterte: 'Humanismus als integrierender Bestandteil des Marxismus, des wissenschaftlichen Sozialismus – ja! Klassischer Humanismus als Ausgangspunkt einer antikapitalistischen Kritik – ja! Aber bürgerlicher Humanismus als 'Ergänzung' des Sozialismus, als Maßstab für seine Verwirklichung – nein!'

Vielleicht lässt sich im 1965er DDR-Bildungsgesetz sowohl ein politischer Erfolg von Kurellas Konzept als auch bereits der offizielle Abschied davon ablesen. Das Gesetz nennt 'Humanismus' ein Ergebnis, nicht Zukunftsaufgabe.“ ( S. 403)

Ausführlich geht Groschopp dann auf den „Kahlschlag“ durch das 11. ZK-Plenum der SED vom 15. bis 17. Dezember 1965 ein. Das gilt auch für die von Walter Ulbricht geplante Konferenz „Humanismus und Realismus“.

Während seinerzeit einerseits relativ ergebnisoffene Debatten über Sozialismus und Humanismus durch die Konservativen im SED-Parteiapparat abgeblockt wurden, kam es andererseits 1967/1968 in der DDR zu einer breiten und öffentlichen Verfassungsdiskussion. Bereits im ersten Entwurf hieß es: „Die Deutsche Demokratische Republik schützt und fördert die sozialistische Kultur, die dem Frieden, dem Humanismus und der Entfaltung des Sozialismus dient. Sie fördert das kulturelle Leben der Werktätigen, pflegt die humanistischen Werte der Weltkultur und entwickelt die sozialistische Nationalkultur als Sache des ganzen Volkes.“ (S. 438/439)

Diese und andere Formulierungen veranlassen Groschopp, der Frage nachzugehen, welches die Ursache war, den Humanismus derart zu betonen und so umfassend zu definieren.

Der Beantwortung soll auch ein historischer Rückblick helfen, ausgehend von der Gründung des ersten deutschen „Kultusministeriums“ 1817 im Königreich Preußen.

Und auf S. 457 wird deutlich, warum Groschopp seinem aktuellen Buch den Titel „Der ganz Mensch“ gegeben hat. Er nimmt damit Bezug auf einen gleichnamigen Sammelband von Alfred Kurella aus dem Jahre 1969. Der Autor widmet sich dann den philosophischen Wörterbüchern der DDR und ihren immer wieder leicht veränderten Humanismus-Definitionen ab 1964.

Weitere Themen bilden die „kulturelle Massenarbeit“ in volkseigenen Betrieben und den Kulturhäusern sowie die „Okkupation des Humanismus“ durch die Philosophen auf deren Humanismus-Kongreß im Jahre 1984. Groschopps Verdikt für diesen Kongreß fällt vernichtend aus, war doch dieser wirklich von der tiefen gesellschaftlichen Stagnation in den sozialistischen Staaten in Ost- und Mitteleuropa gekennzeichnet. Er benennt zwei systembedingte Erkenntnisblockaden seit der Ära Honecker in der DDR. Die erste habe sich aus dem unbedingten Festhalten an der Erziehung eines jeden zu einem „ganzen Menschen“, zu einer „allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeit“ unter den tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR ergeben. Eine zweite und grundsätzlichere Denkblockade habe in der unzulässigen Verknüpfung der „historischen Mission der Arbeiterklasse“ mit der Problematik des Humanismus als einer kulturellen und historischen Gedanken- und Realbewegung bestanden. Groschopp folgert: „Der spezielle DDR-Humanismus verlor sein imaginiertes Subjekt [die Arbeiterklasse; SRK], das ihn tragen sollte. (S. 491)

Und leitet damit zum siebenten Kapitel über: „Am Ende der Illusion – die Arbeiterklasse schläft nicht“. Groschopp schreibt hier: „Marx hatte keinen wissenschaftlichen Klassenbegriff.“ In diesem Kapitel greift der Autor auf seine Dissertation und ein Lehrheft aus seiner Feder zurück. Seine jetzt veröffentlichten Schlussfolgerungen hat er bereits am 1. Februar 2003 auf einer Sondersitzung des Forschungskollegiums „Das Kapital neu lesen“ an der FU Berlin vorgetragen. Was hier zunächst antimarxistisch/antikommunistisch klingt, relativiert sich, wenn man sich selbst in die entsprechenden Marx-Schriften vertieft. Dieses Kapitel sollte gerade marxistischen und marx-neugierigen Lesern zur aufmerksamen Lektüre anempfohlen werden. Groschopp bilanziert mit Verweis auf Friedrich Engels (1820 – 1895) - Vorwort zur Schrift „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“: „Von einer solchen Haltung sollten auch die Konzeptionen vom Humanismus in der DDR und die Versuche ihrer Umsetzung beurteilt werden.“ (S. 513)

Wie humanistisch war denn nun die DDR?

Groschopp erteilt zunächst eine andere, sehr richtige Antwort:

„Sich historisch dem Humanismus-Verständnis der DDR zu nähern, wendet sich gegen eine Erinnerungskultur, wie sie in den ersten zwanzig Jahren nach dem Ende dieses Staates gepflegt wurde. Verlautbarungen von Politikern, in wissenschaftlichen Texten, Fernsehdokumentationen und Spielfilmen unterstützten Zuspitzungen totalitarismustheoretische Argumente. All dies erzeugte ein öffentliches Bild von der DDR, das diese vor allem als ein Kontinuum deutscher Diktaturen, als Terrorherrschaft, 'Unrechtsstaat' sieht. Es ging um eine möglichst vollständige Delegitimierung dieses Staates... (…) Diese Vorgänge behinderten Entideologisierung, Differenzierung, Multiperspektivität und Pluralismus...“ (S. 515)

Groschopp hat zum DDR-Humanismus eine Vielzahl von Befunden und Fragen notiert, die jede für sich Ausgangspunkt für weitere Forschungen sein können. U.a. schreibt er: „Die DDR war durchaus ein humanistisches Land – trotz allem, gemessen an den Zuständen der Welt, mit all den gemachten und noch folgenden Einschränkungen. 'Land' ist nicht nur der Staat DDR, sondern das sind die Menschen in deren Gesellschaft. Wer will behaupten, sie seien – große Teile davon oder sogar eine Mehrheit – nicht humanistisch gewesen? Was waren sie dann? Es ist doch nicht zu übersehen, daß sich das Gros der Bevölkerung in seinem Leben weltlich (säkular) orientierte. Die Menschen achteten in der Regel ihre eigene Individualität wie die von anderen. (…) In ihrer Gesellschaft hatten sie Formen der Solidarität ausgebildet und wollten diese ausbauen. Rassismus wurde unterdrückt. Wissenschaft besaß einen hohen Stellenwert. Sie lebten in keiner idealen Welt... (…) Da die Menschen in ihrer Mehrheit  nicht christlich, nicht anders religiös, nicht plump atheistisch waren und offen antihumanistische Orientierungen eher selten vorkamen, und da sie nicht als 'wertelos' gelten können, liegt das soeben getroffene Urteil nahe. (…) Der Begriff Humanismus war allgemein üblich. Was dazu gesagt wurde, öffentlich zugänglich. Humanismus wurde in der entsprechenden Schulliteratur wie in den wissenschaftlichen Schriften immer mehr historisch richtig, nach dem jeweiligen Wissensstand abgeleitet und gesellschaftlich vielgestaltig verwendet, um alltägliche wie weltweite Vorgänge und Epochen zu bewerten. (…) Als Weltanschauung war Humanismus vielleicht prägender als bisher angenommen, weil Menschen als solche – nicht als Ebenbilder eines Gottes oder eines Prinzips – in den Mittelpunkt der Debatten gerieten und ihr Tun und Lassen nach Gradmessern eingeschätzt wurde, die anerkanntermaßen selbst von Menschen gemacht wurden.“ (S. 529/530)

Dem ist nichts hinzuzufügen!

Horst Groschopps Buch ist auch deshalb so wertvoll und notwendig, weil in bundesdeutschen Publikationen über den Humanismus die DDR in der Regel nicht vorkommt. Selbst wenn es sich bei deren Autoren um renommierte Menschen aus dem säkularen Humanismus handelt. Insofern kommt dem von Groschopp gewählten Untertitel „Ein Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte“ bewusst eine besondere Bedeutung zu.

Siegfried R. Krebs

Horst Groschopp: Der ganze Mensch. Die DDR und der Humanismus – Ein Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte. 560 S. Paperback. Tectum-Verlag. Marburg 2013. 29,95 Euro. ISBN 978-3-8288-3163-6