Der bekannte religionskritische Philosoph Joachim Kahl legt mit seinem neuen Buch "Humanismus. Eine Einladung" unterschiedliche Texte zum humanistischen Selbstverständnis vor. Dazu gehören definitorische Betrachtungen ebenso wie Gemäldeinterpretationen, kurze Portraitskizzen genauso wie themenbezogene Reflexionen.
Der Philosoph Joachim Kahl (Jg. 1941) gehört zu den bekanntesten gegenwärtigen Religionskritikern. 1968 erschien sein Buch "Das Elend des Christentums oder Plädoyer für eine Humanität ohne Gott", worin er grundlegende Einwände gegen die genannte Religion erhob. Der Untertitel deutete bereits seinen späteren Weg an. Bausteine für einen säkularen Humanismus entwickelten seine folgenden Publikationen. Einschlägige Betrachtungen mündeten dann in seinem Buch "Weltlicher Humanismus. Eine Philosophie für unsere Zeit" von 2005. Mit "Humanismus. Eine Einladung" liegt jetzt ein neues Werk vor. Es geht darin nicht um eine Einführung, sondern um eine Einladung, worin ein Unterschied besteht. Denn im erstgenannten Fall würde man zum Humanismus eine systematische Vorstellung erwarten. Bei einer Einladung können Reflexionen im unterschiedlichsten Sinne im Zentrum stehen. Genau dies ist in dem kleinen Band der Fall, geht es darin doch immer wieder um bekannte Gemälde und deren philosophische Botschaft – eben in humanistischer Deutung.
Umrahmt werden solche Betrachtungen von allgemeinen Gedanken zum humanistischen Selbstverständnis, aber auch zu dessen personellen Verkörperungen. Es handele sich um "ein kulturelles Projekt … das – in Theorie und Praxis – um Wohlergehen und Würde des Menschen kreist, also empirisch und normativ orientiert ist" (S. 1). Das sind zunächst einmal eher allgemeine Aussagen, die aber an späteren Stellen auch hinsichtlich politischer Zusammenhänge konkretisiert werden. Bereits früh macht Kahl deutlich, dass es ihm um eine "erklärtermaßen atheistisch" (S. 2) orientierte Spielart geht. Später zeigt sich, dass er für einen realistischen Blick im solidarischen Sinne plädiert. Ausdrücklich formuliert er: "Keine säkularen Glücksversprechungen, keine messianischen Heilsverheißungen einer leidfreien und konfliktfreien Gesellschaft, sondern eine ganz und gar irdische und ganz und gar materialistische Programmatik. Wohlstand für alle und Bildung für alle" (S. 40). Es gehe dabei um die antiken Kardinaltugenden: Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung.
Kahl verschweigt nicht, dass es hier einer "inhaltlichen Füllung und Konkretion" und eines Schutzes vor "Missbrauch und irriger Anwendung" (S. 153) bedürfe. Deutlich positioniert er sich auch in Richtung einer anti-totalitären Zuspitzung. Und so münden seine Auffassungen zu gesellschaftlichen und politischen Fragen darin, für die Normen und Regeln eines demokratischen Verfassungsstaates zu votieren. Derartige Formulierungen wählt Kahl zwar nicht, aber die damit einhergehenden Auffassungen laufen auf eine solche Position hinaus. Gleiches gilt für die Ausrichtung anhand einer sozialen Marktwirtschaft, die aber die soziale Komponente für die Praxis großschreibt. Auch hier bleibt der Autor eher bei allgemeinen Betrachtungen stehen, sieht sie aber als Folge eines normengebundenen Humanismus in einem realistischen Sinne. Orientiert sind all diese Ausführungen anhand einer philosophischen Tradition, der europäischen Aufklärung mit dem "Ideal des autonomen Subjekts" (S. 85), das auch viele andere Betrachtungen und Kommentierungen prägt.
Dies gilt etwa für die Frage einer Freiheit nicht nur im Leben, sondern auch einer Freiheit zum Tode. Lange Ausführungen widmen sich der Debatte um eine Sterbehilfe, die in bestimmten Lebenslagen in einem menschenfreundlichen Sinne angewandt werden könne. Kahl erinnert in kurzen Kapiteln darüber hinaus an humanistische Vorbilder, die er etwa in Bertha von Suttner, Olympe de Gouges, Fritz Bauer oder Nelson Mandela sieht. Er nennt Antigone als die erste namentlich bekannte Humanistin und erinnert an Marc Aurel und dessen Bescheidenheit und Tugend. Zwischen all diese Ausführungen sind dann Deutungen von Gemälden gestellt, seien sie von Dürer oder Tizian, von Beckmann oder Ernst. Insofern liegt keine systematische Einführung in den Humanismus, aber eben eine Einladung zum Humanismus vor. Man sollte daher den Band eher wie ein Lesebuch ansehen, wechseln doch Fragestellung und Themen häufig. Nimmt man sich immer nur einen der eher kürzeren Beiträge vor, so liefert er für das persönliche Reflektieren interessanten Stoff.
Joachim Kahl, Humanismus. Eine Einladung, Baden-Baden 2021, Tectum-Verlag, 176 Seiten, 26 Euro