Gibt es christliche Werte & christliche Moral? (1)

(hpd) Auf der Habenseite der monotheistischen Religionen wird gerne verbucht, dass ohne sie keine Werte existieren würden oder zumindest kein Anreiz, sich an irgendwelchen Werten zu orientieren. Buchautor Alfred Binder setzt sich in einer vierteiligen Serie mit dieser Behauptung auseinander.

Haben wirklich Jahwe, Jesus oder Allah Werte in die Welt gebracht? Was ist das spezifisch Christliche an Werten, die das Christentum für sich beansprucht? Und in welchem Verhältnis stehen die Menschenrechte zu den Anforderungen an ein den monotheistischen Göttern gefälliges Leben?

I. Werte, Tugenden, Normen

Erst durch die Religion sind moralische Werte in die Welt gekommen und nur durch sie können sie begründet und durchgesetzt werden. Ohne Strafandrohung durch jenseitige Wesen würden sich die Menschen in den meisten Fällen nicht an die moralischen Gebote halten. Ohne Religion würden Mord und Totschlag, würde Anarchie unter den Menschen herrschen. – Das ist eine weitverbreitete Ansicht, ihr vielleicht bekanntester Vertreter war Dostojewski.

Christliche Politiker und Kirchen behaupten gerne auch noch spezifische christliche Werte, denen das christliche Abendland vieles zu verdanken habe und die zu bewahren wichtig sei. Diese Werte werden seltsamerweise selten genannt. In Äußerungen und Artikeln über christliche Werte tauchen an erster Stelle meist die Zehn Gebote auf, gefolgt von der Nächstenliebe, Gottesliebe und der Familie. Häufig finden sich auch Tugenden wie Schamhaftigkeit, Treue, Gehorsam, Demut, Glaube, Liebe und Hoffnung und sogar die als urdeutsch geltenden Tugenden Fleiß, Ordnung, Respekt und Pünktlichkeit.

Wir könnten als erstes fragen, ob Tugenden überhaupt ethisch wertvoll sind, denn mit ihnen kann gutes und schlechtes bewirkt werden. Wie schon Oskar Lafontaine bemerkte, kann ich mit Tugenden wie Fleiß, Ordnung und Sauberkeit auch ein KZ führen. Ebenso sind die Zehn Gebote nicht eigentlich Werte, sondern Normen.

Normen sind Handlungspflichten, Werte dagegen sind Güter, an denen wir unser Handeln orientieren. Das können materielle Güter oder „immaterielle“ Güter sein. Immaterielle wären beispielsweise Freiheit und Nächstenliebe. Tugenden sind psychische Eigenschaften, wie die klassischen Tugenden Klugheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Mäßigung.

Meine Behauptung ist: Es gibt keinen einzigen spezifischen christlichen Wert, es gibt bei manchen Werten vielleicht so etwas wie christliche Ausprägungen, so bei der Demut und der Gottesliebe.

Werte, Tugenden und Normen bilden sich heraus als Reaktionen auf Lebensbedingungen, also als Reaktionen auf die ökologischen, ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse. Das bedeutet: Ähnliche Verhältnisse bringen ähnliche Werte, Tugenden und Normen hervor.

Demut und Gehorsam

An Demut und Gehorsam, zentrale Werte (eigentlich Tugenden) der monotheistischen Religionen, ist der Zusammenhang zwischen den äußeren oder materiellen Verhältnissen und den „inneren“ Werten besonders deutlich. Demütig sein bedeutet: Die Gesinnung eines Dienenden zu haben, dienstwillig und ergeben zu sein. Als christliche Tugend wird sie begründet mit der eigenen Schwäche und Unvollkommenheit gegenüber der Stärke und Vollkommenheit des Herrn. Gehorsam sein, bedeutet, sich einer Autorität unterzuordnen und deren Befehle, Gebote und Verbote zu befolgen.

Die Betonung von Demut und Gehorsam finden wir nicht in den kleinen animistisch-schamanistischen Gesellschaften und deren Religionen. Sie tauchen, als zentrale Tugenden, erst in den Großgesellschaften und Großreligionen auf. Diese entstanden im Feudalismus, also in bäuerlichen Gesellschaften, welche von Adelscliquen mehr oder minder diktatorisch regiert wurden. Das Herr-Knecht-Vokabular der Großreligionen spiegelt die Herr-Knecht-Verhältnisse dieser Gesellschaften wieder. Die Werte Demut und Gehorsam sind Ausdruck der Gewalt- und Ohnmachtsverhältnisse dieser Gesellschaften. Und so ist der Gottesdienst eben ein Dienst, ein Dienst am oder für den Herrn. Der braucht seltsamerweise Dienste und Diener, ebenso wie Krieger und Missionare, obwohl er doch allmächtig ist.

Demut und Gehorsam sind selbstredend die Tugenden, die ein Herrscher bei seinen Untertanen am liebsten sieht. Und: Sich demütig und gehorsam zu verhalten, sind für die Untertanen oft die einzigen möglichen Strategien, um nicht Opfer des allmächtigen Willkürherrschers zu werden. Lohn und Strafe werden in der Gnadentheologie, welche das Christentum und der Islam hervorbrachten, vom Verdienst abgekoppelt. Da der Herr allmächtig ist, kann er belohnen und bestrafen, wie er will, das heißt eben: willkürlich.

Jahwe, Jesus und Allah sind nichts anderes als in den Himmel projizierte verabsolutierte orientalische Willkürherrscher. Für Gefolgschaftstreue und Gehorsam ködern sie mit dem größtmöglichen Versprechen: ewige Lustbarkeiten in einem Paradiesgarten. Für Untreue und Ungehorsam drohen sie mit der größtmöglichen Strafe: ewige Folter an einem dunklen, heißen Ort. Luther forderte, diese Despoten zu fürchten und zu lieben. Wesen, welche uns mit ewiger Folter drohen, zu fürchten, ist einfach und verständlich, aber warum sollten Menschen solche Wesen lieben?

Auch in Indien entwickelten sich, parallel zur ansteigenden Macht der feudalen Herrscher, religiös legitimierte Demuts- und Gehorsamsideologien. Zum anscheinend nötigen Ausgleich gediehen auch dort, wie in anderen feudalistischen Kulturen, übersteigerte, weil völlig überfordernde, Liebesphilosophien bzw. -theologien. In feudalen Gesellschaften wurde gern in die Liebe geflohen, in die zu Gott oder in die zu einem vom Schicksal bestimmten Menschen. Absolute Liebe, so die Hoffnung, verwandelt alle Leiden des Daseins in Seligkeit. Die bekannteste indische Variante einer übersteigerten Liebesphilosophie und -praxis ist das Bhakti-Yoga.

Nächstenliebe

Die Forderung, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist eine Form der Flucht in die Liebe. Diese Forderung ist, wie schon Freud bemerkte, eine überfordernde.

Da der Feudalismus keine Erfindung des Christentums ist, ist auch die Nächstenliebe nicht originär christlich, sie findet sich schon in der jüdischen Thora, den fünf Büchern Mose, wie auch in anderen Religionen und Philosophien.

Die Nächstenliebe ist ein Wert, der – verständlicherweise – selten bis nie in der christlichen Geschichte, wie auch in keiner anderen, eine Rolle spielte. Vielleicht ahnte Jesus, dass die uneingeschränkte Nächstenliebe, zu viel des Guten ist und schränkt sie deshalb ein. Im Johannes-Evangelium definiert er zum Beispiel den Nächsten, den man lieben soll, als seinen Anhänger; auch Jesus selbst liebt nur seine Anhänger. So erklärt im Johannes-Evangelium Kapitel 15, Vers 10: Wenn ihr mir gehorcht, bleibt ihr in meiner Liebe." Und im Vers 14 heißt es: „Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage.“ Mit anderen Worten: Ich liebe euch nur und ihr seid nur meine Freunde, wenn ihr macht, was ich befehle. Man kann sich auch fragen, ob es ein Ausdruck von Nächstenliebe ist, wenn Jesus nach Matthäus 18,6 fordert: „Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre es besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft werde im Meer, da es am tiefsten ist“ (nach der Lutherbibel, 1912). Nächstenliebe war also keineswegs eine Eigenschaft, welche der Gott des Christentums in uneingeschränktem Maße besaß. Dieser Gott scheint in dieser Beziehung eher eine gespaltene Persönlichkeit gewesen zu sein.

Alfred Binder

Alfred Binder hat Bücher zum Zen-Buddhismus und zur Kritik der Religionen verfasst. Der vorliegende Essay fasst Ergebnisse seiner soeben erschienenen kurzen Kritik der monotheistischen Götter „Jahwe, Jesus und Allah“ zusammen.

Alfred Binder: Jahwe, Jesus und Allah. Eine kurze Kritik der monotheistischen Götter. Reihe Kritikpunkt.e. Aschaffenburg 2013, Alibri; 165 Seiten, kartoniert, Euro 10.-, ISBN 978-3-86569-121-7

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