Busfahrer, Fußläufige und Überflieger

BERLIN. (hpd) 35 % Konfessionsfreie in der Bevölkerung sind eine große Menge Menschen. Deutschland braucht neben der Religions- auch eine Konfessionsfreienpolitik. Die Interessen von Konfessionsfreien öffentlich auszudrücken ist vorrangige Aufgabe säkularer Organisationen. Anhand aktueller Ereignisse um „Pro Ethik“ und „Pro Reli“ macht der folgende Kommentar zunächst auf launige Art vier Reaktionsweisen unter den Säkularen aus.

– Dauerschläfer, Überflieger, Busfahrer und Fußläufige –, vergröbert sie und geht dabei auf den Humanistischen Pressedienst ein, um zum Schluss Grundsätzliches zu sagen.

Von Horst Groschopp

Die Gruppe der Konfessionsfreien ist kein Subjekt, das politisch auf ähnliche Weise zu beachten wäre, so wie man eben Katholiken, Protestanten, Orthodoxe, Muslime oder Zeugen Jehovas beachtet. Die Konfessionsfreien haben – im übertragenen Sinn – wie Karl Marx 1852 im „18. Brumaire“ die französischen Parzellenbauern beschreibt, keine Nationalität, Kommunikation, Organisation, Subjektivität und damit keine eigene Kultur.

Das meint ja nicht, dass sie kulturlos wären, aber sie haben keine ihnen anerkannt zugeschriebenen Selbstverständlichkeiten, die sie wie Mitglieder religiöser Gruppen sagen ließe „Wir Konfessionsfreien“ und „Ihr Christen“, „Ihr Muslime“, „Ihr Juden“. Das wollen diese Bekenntnisfreien in ihrer Mehrheit auch gar nicht – so scheint es jedenfalls. Sie sind meist gemeinschaftsresistent und überzeugt von ihrer ethischen Weltanschauung oder persönlichen Religion. Das hat Folgen im politischen Geschäft: Wer nämlich keine eigenen Interessen öffentlich, sozial und politisch anmeldet, hat keine.

Konfessionsfreientypologie
 

Nun gibt es zahlreiche historische wie aktuelle Ansätze, die Einheit herbeizureden, herbeizuwünschen, herbeizurufen usw. Der Humanistische Pressedienst z.B. ist als ein solches Projekt aus verschiedenen Motiven heraus gegründet worden. Er kommuniziert in die Szene hinein wie nach außen. Er tut sich aber zunehmend schwer, das Gemeinsame auszudrücken zwischen Krawall- und Kuschel-Atheismus, um es vereinfachend zuzuspitzen. Erfahrungsproduktion ist sein Verdienst.

Von Freunden wie Gegnern wurde erstaunt wahrgenommen, dass es die praktischen Humanisten mit den neuen Atheisten – und umgekehrt! – aushalten. Sie haben sich öffentlich nichts geschenkt. Hinzu kommt: Die Verbände im säkularen Spektrum hatten und haben mit den diversen Öffentlichkeiten so ihre Lernschwierigkeiten. Unter ihnen gibt es, einmal im vergröbernden Stil und quer Beet betrachtet, vier Varianten, als Konfessionsfreie öffentlich zu agieren: die notorischen Dauerschläfer, die bohrerbewehrten Fußläufigen, die findigen Busfahrer und die bühnenerprobten Überflieger.

Über die erste Gruppe soll hier nichts groß gesagt werden. Sie sagt ja kaum selbst etwas, meldet sich kaum zu Wort, sei es aus Schwäche, sei es, weil es ihr im Lauf der Geschichte die Sprache verschlagen hat oder weil ihre Sprecher gar nicht wissen, was denn jemand interessieren könnte. Sie singen die alten Lieder und lesen die alten Texte.

Überflugrechte für Himmelfahrtfahrer
 

Die Überflieger heißen hier so, weil sie von Projekt zu Projekt, von Bühne zu Bühne jagen und die schlafenden Konfessionsfreien aufrütteln wollen. Diese scheinen eigentlich nur eines deutlichen Weckrufes zu bedürfen, ihre wahren, aber schlummernden Bedürfnisse endlich artikuliert zu sehen. Typisch für die Überflieger ist die Methode der Appellation. Das ist gegenwärtig in der Aufführung zu sehen, den Himmelfahrtstag abzuschaffen und ihn in eine Art Darwin-Gedächtnis-Tag zu verwandeln.

Sofort finden sich einige Enthusiasten und zahlreiche Mitglieder einiger Organisationen der fußläufigen wie busfahrenden Art, die das sofort unterstützen. Hat aber irgendjemand einen Antrag an irgendein Kultusministerium geschrieben? Wie wäre überhaupt der Dienstweg einer Umwidmung? Dafür werden dann Fußläufige benötigt, die erfahren sind in diesen Quälereien. Und nun? Eine neue Losung wird kommen.

Was bleibt? Nicht einmal ein ordentlicher Diskurs über historische Kalenderkämpfe springt heraus. Der Kampf um den Kalender ist doch aber so alt wie die Zeitrechnung und der Versuch der Freidenker, zumindest Himmelfahrt zu ersetzen, erlebte um 1900 seinen ersten Höhepunkt: „Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten – / Euren Festen nach der Reih‘ ... / Von dem ältsten bis zum jüngsten / Gehn wir kalt und fremd vorbei“, so schrieb der sozialdemokratische Vorwärts 1891 (Nr. 102).

In der DDR wurde der Himmelfahrts-Feiertag abgeschafft. Das hatte den schönen Effekt, dass viele Ungläubige an diesem Tag religiös wurden, wie mein Nachbar Ossi, ein Bauarbeiter, weil Freistellung von der Arbeit aus religiösen Bräuchen ein Recht war. Ossi wurde an dem Tag regelmäßig religiös. Seine Religionsausübung war der Ausflug mit Kumpels übers Land im Schlafanzug, mit Zylinder, Knotenstock und viel Bier.

An diesem Männer- bzw. Herrentag (Achtung, Ost-West-Unterschiede auch noch!) wird überhaupt immer viel gesoffen, wohl auch an einem Evolutionstag. Warum aber Evolutions- und nicht gleich „Männertag“, wo es doch schon einen Frauentag gibt. Der 8. März sollte dann parallel ein arbeitsfreier Tag werden. Für diese Idee spricht ebensoviel wie für einen Evo-Tag oder die Verlegung des Welthumanistentages vom 21. Juni, der weniger bekannt ist als der Weltspartag, auf Himmelfahrt.

Freifahrt für Gottlosenbusse
 

Die Busfahrer unter den Konfessionsfreien sind die modernsten und pfiffigsten. Seit Herbst 2008 und dem englischen Beispiel mit Dawkins gibt es auch in Deutschland entsprechende Vorschläge, Busbeobachtern auf der ganzen Welt mitzuteilen, dass man selbst ganz prima ohne Gott lebe. Inzwischen agiert eine Initiativgruppe und hat flott mehr Geld eingesammelt als etwa der Berliner Initiative „Pro Ethik“ zur Verfügung steht. Das gibt zu denken: Torte für Busfahrer, trocken Brot für die Fußläufigen. Dennoch: Die Sympathie aller Konfessionsfreientypen haben die Busfahrer auf ihrer Seite. Diese und jene Gruppe der Fußläufigen überlegt, auf den Bus zu springen oder eigene Busse fahren zu lassen.

Es gibt aber auch gegenteilige Ansichten. So sehr die Hoffnung aus den Wünschen spricht, sich hier zu beteiligen und daraus Ansehenskapital für den eigenen Laden und die Konfessionsfreien überhaupt zu schlagen, man muss fußläufig werden bis der Bus fährt.

Davon abgesehen gibt es mit der Bekenntnis-Busfahrerei aber auch ein Problem für Zuschauer und Insassen. Man kann nicht für „Pro Ethik und Religion“ sein, wie das Bündnis genau heißt, und zugleich Busse fahren lassen, die Leute ärgern, die an einen Gott glauben und dennoch für Ethik und gegen Pro Reli sind. Zudem kursiert das Gerücht, ob diese Busfahrerei nicht nach sich zieht, dass Kirchen und Sekten mit größeren Mitteln dann erst richtig loslegen. Auch soll es in bestimmten Gegenden Deutschlands ja Zustände geben, bei denen die Leute vergessen haben, dass sie Gott vergessen haben – und nun wird ihre Erinnerung aufgefrischt.
 

Über die Helden des Treppensteigens
 

Erstaunlich viele Organisationen haben sich bei Pro Ethik versammelt und viele Freiwillige wollen als Fußläufige helfen: wenig Geld, aber viel Enthusiasmus. Wer hier als Organisation gut aufgestellt ist, kann Menschen vielleicht auch künftig an sich binden. Und der Berliner HVD imponiert durch seine Haltung und Kleinarbeit. Wir finden hier wie im Bündnis überhaupt die Fußläufigen, die politischen Bretterbohrer. Schlafen können sie nicht, Busfahren möchten sie schon. Es fehlt ihnen aber weitgehend die überfliegerische Bühnentauglichkeit. Es scheint sogar, sie wollen sie nicht.

Alle glauben an den Sieg der guten Pro-Ethik-Sache. Aber selbstverständlich können die Kirchen und die konservative Politik bei Pro Reli gewinnen. Wer das Gegenteil meint, sieht bunte Sterne.

Es sind gerade die Konfessionsfreien, die Sorgen bereiten. Während alle Pro-Ethik-Fußläufigen die großen historischen Linien abschreiten und den staatlichen Schutzschirm prognostizieren, unter den die Kirchen flüchten wollen, die gemeinsamen Wertedebatten pädagogisch verteidigen – vernebeln Tatsachenwinde die Aufklarung. Wohl einer Mehrheit gottlos lebender Konfessionsfreier ist ziemlich Wurst, was da abläuft. Religion ist ihnen egal und für ihr Kind oder ihr Enkel wird es ja weiter Ethik und Lebenskunde geben. Sollen die andren doch mit ihrer Religion glücklich werden.

Das bedeutet, für das nötige Quorum bei der Volksabstimmung könnte es ziemlich unerheblich sein, wie die Konfessionsfreien stimmen werden, weil sowieso nur wenige von ihnen wahrscheinlich zur Abstimmung gehen. So kommt Pro Reli vielleicht glücklich zu den nötigen 611.000 Teilnehmern und zu der immer einen Ja-Stimme mehr als mit Nein stimmen. Je mehr Wirbel, desto mehr gehen hin und desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Ja-Sager/-innen hingehen.

Entscheidend wird sein, ob es den Kirchen gelingt, ihre Klientel in Gang zu setzen, nämlich genau jene 15-20 % Konservative, je nach Stadtteil mehr oder weniger, die auch für Tempelhof waren und die anhand der Unterschriften für das Volksbegehren identifiziert sind. Diese Gruppe wird für Pro Reli stimmen.

Weitgehend unklar ist, wie sich die stimmberechtigten Muslime entscheiden werden. Selbst wenn deren Anteil für Pro Reli sehr hoch sein sollte – das reicht dann immer noch nicht.

Es steht aber zu erwarten, dass das Bild von Berliner Schulen, in denen der Islamunterricht dominieren würde, die christlichen Konservativen nicht abschrecken wird, in dieser Grundsatzfrage für Pro Reli zu stimmen.

Um zu obsiegen, brauchen sie aber noch unentschiedene, liberale Christen, die ja im Humanistischen Pressedienst genügend beschimpft worden sind. Christen für Ethik und liberale Christen bilden die entscheidende Gruppe. Wenn es den Kirchen und den mit ihnen verbundenen Medien (es gibt in Berlin keine mit Pro Ethik verbundenen Medien mit Einfluss) gelingt, sozusagen einen atheistischen Keil in dieses Bündnis zu schlagen (die FAZ und andere Medien bemühen sich fleißig) oder die passiven Christen und Muslime zu verängstigen, werden sich viele von ihnen für Pro Reli entscheiden aus Angst, die Leute um den HVD würden atheistische Ethik und nicht „Ethik und Religion“ wollen. Es geht um die Glaubwürdigkeit der Fußläufigen.

Was der HVD heute sagt und unternimmt, hat der Glaubwürdigkeit wegen vor und nach der Volksabstimmung, egal welchen Ausgang sie nimmt, und über Berlin hinaus zu gelten.

Der HVD ist eine nichtreligiöse Weltanschauungsgemeinschaft. Allein in Berlin ist er Träger von über vierzig sozialen, kulturellen und pädagogischen Angeboten. Seine Aufgabenfelder reichen von Aufklärungs- und Vortragsarbeit, Fest- und Feierkultur, Kinder- und Jugendarbeit, Lebenskundeunterricht, Gesundheits- und Sozialangeboten, Patientenverfügung bis hin zur Sterbebegleitung und der Hilfe für Angehörige. Pro Ethik ist ein Projekt darin, ein politisch wichtiges.

Im Selbstverständnis des HVD steht, er möchte „endlich die gleichberechtigte Behandlung aller Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften“ herstellen und „in geeigneten gesellschaftlichen Bündnissen und Kompromissen mitwirken.“ Das Wort gilt. Die Humanistinnen und Humanisten im HVD müssen, wollen und können belegen, dass sie es ernst meinen mit der Gleichbehandlung von Christen, Juden, Muslimen und Humanisten, die, so gottlos sie selbst sein mögen, doch nicht verkappte Krawall-Atheisten sind.

Um diese Ehrlichkeit den Bündnispartnern in Berlin und der bundesdeutschen Gesellschaft gegenüber geht es – und es gelang in den letzten Monaten oft nicht außerhalb der säkularen Szene zu unterscheiden zwischen dem, was der HVD will und dem – zurück in die bildhafte Sprache – was Überflieger und Busfahrer so sagen. Das passiert in der Mediengesellschaft. Ich gehe mit den bohrerbewehrten Fußläufigen.