Mystische Erfahrungen: Ein Gottesbeweis? (2)

Mystikerinnen suchten nicht nur die Nähe zu Jesus sondern auch zu anderen himmlischen Wesen, wie Apostel, Heilige und Engel, vor allem aber suchten sie die Begegnung mit den Mitgliedern der heiligen Kernfamilie: Gott, bzw. Jesus, der Jesusknabe, sein “Vater” Joseph, seine Mutter Maria und häufig deren Mutter Anna.

Die “Gnade” der Begegnung mit “jenseitigen” Wesen verdankten die untersuchten christlichen Mystikerinnen einer erbarmungslosen Erziehung, die sie an dem erkranken ließ, was man heute Borderline-Syndrom nennt. Es zeichnet sich aus durch impulsive und instabile zwischenmenschliche Beziehungen, Stimmungen und Selbstbilder. Alle untersuchten Mystikerinnen litten an dissoziativen Störungen, einer Aufspaltung von Wahrnehmungs- und Gedächtnisinhalten, aufgrund traumatischer Kindheitserfahrungen. Ihre religiösen, speziell mystischen Praktiken muss man als einen unbewussten Selbsttherapieversuch verstehen, der jedoch in allen untersuchten Fällen misslang.

Alle untersuchten MystikerInnen, ob Männer oder Frauen, wurden als Kinder sexuell missbraucht, in der Regel von männlichen Erziehungspersonen. Eine weitere Traumatisierungsursache waren der Entzug von Sinnesreizen, sogenannten Deprivationen. So erlitten sie einen extremen Mangel an körperlicher und seelischer Zuwendung und den Entzug von Umgebungsreizen, wie Licht, Nahrung und Bewegung. Folterähnliche sensorische Deprivationen mussten Kleinkinder von der Antike bis ins 17. Jahrhundert, in manchen Weltgegenden bis heute, durch strammes Wickeln erleiden. Dabei wurde der ganze Körper so straff eingebunden, dass sich das Kind nicht mehr bewegen konnte; manchmal wurden die Augen zusätzlich mit einem Tuch abgedeckt. Die Praxis der stundenlangen Ruhigstellung durch strammes Wickeln führte zu Juckreizen, Beklemmungen und Verlassenheitsgefühlen. Mit Licht machten diese armen Kinder oft nur in den wenigen Minuten der “Fütterung” Bekanntschaft, bei der damals oft Honig gegeben wurde. Von daher wahrscheinlich die Verbindung der mystischen Vereinigung mit Helle, Licht und die häufige Bezeichnung des himmlischen Personals als “süß”. Diese Erziehungstorturen führten bei den untersuchten Personen zu einer Fixierung an Traumata.

Kinder, die misshandelt wurden, misshandeln sich als Erwachsene häufig selbst. Bei den christlichen MystikerInnen finden sich Selbstbeschädigungen in allen erdenklichen Formen, so in exzessiven Selbstgeißelungen, Schlafentzug, Schlafen in Glasscherben, Beschädigungen der Geschlechtsteile und überlangem Nahrungsentzug. Die Mystiker versuchten mit solchen Selbstbestrafungen total gute Objekte, nämlich himmlische Wesen, buchstäblich herbeizuleiden.

Selbstschädigendes Verhalten erklärt sich als ein Ausagieren einer traumatischen Erzieher-Kind-Beziehung und ein Bestrafen des eigenen Körpers “aufgrund von Schuldgefühlen.” Der Selbstbeschädiger identifiziert sich dabei mit dem “frühen Aggressor” (zum Beispiel, dem Vergewaltiger) und gibt sich selbst die Schuld für das, was ihm widerfährt. “Das missbrauchte Kind hält sich für schuldig, den Missbrauch verursacht zu haben.”[7]

Der Alltag der Mystikerinnen war fast durchweg einer der Selbstkasteiung, Selbstbeschädigung, Selbstbestrafung. Zusätzlich mussten sie sich gegen Vereinigungswünsche „böser“ Objekte wehren, meist in Form von teuflischen Versuchern. Erst wenn sie diese Dämonen „besiegten“, d.h. die eigenen sexuellen Wünsche erfolgreich unterdrückten, wurden sie mit einer geistigen, spirituellen Vereinigung belohnt.

Das Ringen der christlichen Mystiker um die Nähe himmlischer Wesen war also ein elendiger Kampf um Liebe, Geborgenheit und Anerkennung. Er wurde nicht mit den Verursachern des Mangels geführt, die Auseinandersetzung mit ihnen wurde verschoben hin zu imaginären, aber sozial akzeptierten sogenannten himmlischen Wesen.

Bei der christlichen mittelalterlichen Mystik geht es nicht um eine Zurücknahme der Egozentrität, die der Philosoph Ernst Tugendhat als universelles, grundlegendes Motiv der Mystik zu erkennen glaubt. Die scheinbare Rücknahme eigener Ansprüche, wie man die Selbstbestrafungen verstehen könnte, soll die völlige Zerstörung der Persönlichkeit verhindern, indem sie Erlebnisse des Angenommenseins provoziert.

Die wenigsten misshandelten Menschen werden Mystiker. Dass es doch einige wurden und heute immer noch versuchen zu werden, liegt unter anderem daran, dass Menschen in einer Umgebung aufwachsen, die ihnen permanent religiöse Interpretationen der Welt und ihres unverstandenen Schicksals aufdrängt. Die Umgebung vermittelt die Symbole, so heilige Wesen, und das Symbolsystem, wie die Hl. Familie und die christliche Lehre, mit dem sie ihre Traumata reinszenieren können.

Vor diesem Hintergrund möchte ich noch einmal Teile der Unterredung Mechthilds mit ihrem Herrn und Geliebten vorlesen und interpretieren. Die Interpretation, die sich hier förmlich aufdrängt, ist meine eigene, entstammt also nicht der Untersuchung Frenkens, wie auch nicht die von mir hier zitierten Texte der Mystikerinnen.

Du weißt wohl, wie du die Saiten meiner Seele anrühren kannst.
Eya, damit beginne alsogleich,
So müssest du jederzeit selig sein.

Der Herr müsste also jederzeit selig sein, wenn er ihre Saiten anrührt, nicht Mechthild müsste selig sein. Mechthild bietet sich hier, so meine ich, ihrem Herrn für den sexuellen Verkehr an, damit er zufrieden ist.

Ich bin eine unedle Braut, Du jedoch bist mein edler Bräutigam.
Darüber will ich mich immer und allezeit freuen.

Sie ist eine schmutzige Person, die es nicht anders verdient so behandelt zu werden, aber sie kann stolz sein, dass es von einem so hohen Herrn geschieht.

Gedenke, wie du die reine Seele in deinem Schoß lieben kannst. Und, Herr, vollbringe dies an mir immer wieder. Ich allein sei deine einzige Gefährtin. …
Wieder macht sie ihm das Angebot, dass er mit ihr verkehren kann, so oft er will, wenn sie dafür die einzige Person ist, die er liebt. Eine ja merkwürdige Forderung, wenn es sich bei dem Herrn tatsächlich um Gott bzw. Christus handeln sollte.

Nun die Antwort des Herrn. Sie entschlüsselt sich von alleine, wenn man sie aus der Perspektive eines Vergewaltigers liest, dessen Opfer von ihm abhängig ist.
Mein Gegengruß ist eine so große Himmelsflut, daß
Würde ich mich in dich nach meiner Macht geben,
Du dein menschliches Leben nicht behieltest.

Mechthild scheint also schon als so kleines Kind vergewaltigt worden zu sein, dass es ihr Leben bedrohte.
Du siehst wohl, ich muß meine Macht zurückhalten
Und meine Klarheit überdecken,

Er zügelte sich und er verbarg seine Identität.
Damit ich dich desto länger für mich
In der irdischen Betrübnis behalte.

Sie soll Leiden, damit sie noch länger an ihn gekettet ist und zwar solange:
Bis dann aufblüht all deine Süßigkeit
In der Höhe der ewigen Herrlichkeit,
Und mein Saitenspiel dir süß erklingen wird
Gemäß dem treuen Geschenk deiner langen Liebe.

Er verspricht ihr, wenn sie zur Frau geworden ist (aufblüht), wird sie, was er ihr jetzt antut, genießen können, (mein Saitenspiel dir süß erklingen wird), sie muß ihm nur treu bleiben; vielleicht ist auch gemeint, sie muss verschwiegen bleiben. Aber er kann bis dahin seine Übergriffe nicht einstellen, denn es heißt weiter:

Jedoch will ich schon vorher beginnen
Und in deiner Seele meine himmlischen Saiten bewegen, Damit du desto länger zu warten vermagst.

In der Antwort Mechthilds ist die Rede vom Aufschwingen meiner Seele hin zu dem Geruch deiner Salben. Das unterstützt die Deutung, dass der Vergewaltiger seine Identität verbarg, dass aber die Erwachsene Mechthild noch um den Geruch seiner Parfümierung weiß.

Das Schlimme und Traurige ist, dass man keine Berichte aus der christlichen Mystik findet, so Ralph Frenken, hinter denen sich nicht, wenn man sie genauer betrachtet, solche und ähnliche grausamen Geschichten verbergen.

Die mittelalterlichen Mystiker waren also keine beneidenswerten Menschen, weil sie sich etwa dem Wohlwollen von oben schon zu Lebzeiten versichert haben, im Gegenteil: Die sogenannten echten Mystiker waren sehr bedauernswerte Geschöpfe, weil sie ihr ganzes Leben lang an schmerzhafte irrationale Heilungsversuche ihrer Kindheitstraumata gekettet blieben.

Was es mit der Erkenntnismystik auf sich hat, wie ich sie mit Beispielen aus dem Zen-Buddhismus vorstellte, werde ich in der nächsten Folge darlegen.


  1. Kapleau, Philip: Die drei Pfeiler des Zen. Bern/München 1984. 1.Aufl. 1965, S. 313–315.  ↩

  2. ebenda, S. 286.  ↩

  3. Zit. nach Weis, Hans-Willi: Denken, Schweigen, Übung. Freiburg im Breisgau 2012, S. 128.  ↩

  4. Frenken, Ralph: Kindheit und Mystik im Mittelalter. Frankfurt 2002, S. 27.  ↩

  5. Kapleau, Philip: Die drei Pfeiler des Zen. Bern/München 1984. 1.Aufl. 1965, S. 348.  ↩

  6. Siehe Frenken, Ralph: Kindheit und Mystik im Mittelalter. Frankfurt/M.2002 und meine Zusammenfassung und dementsprechenden Überlegungen zum Zen-Buddhismus in Mythos Zen, Kap.IV.  ↩

  7. Frenken, Ralph: Kindheit und Mystik im Mittelalter. Frankfurt/M. 2002, S.146.  ↩