"Ein Gummiband gegen AIDS"

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Stefan Schritt
Stefan Schritt, Foto: © Evelin Frerk

LANGWEDEL. (hpd). In den letzten Tagen ging wieder einmal die Meldung durch die Medien, dass eine Beschneidung vor AIDS schützt. Das jedoch ist lebensgefährlicher Unsinn, wie Stefan Schritt nachweist. Er widerlegt die schlechte Recherche einer Autorin, die über den "Nutzen" der Beschneidung in Uganda schrieb.

Die Liste der tatsächlichen oder vermeintlichen Krankheiten, gegen die eine Beschneidung (oder richtiger gesagt: Amputation der Penisvorhaut bei Jungen oder der Klitorisvorhaut und/oder Klitoris bei Mädchen) in den letzten 150 Jahren als eine Art Wunderheilmittel gepriesen wurde, ist lang: Klumpfüße, Rückenmarksschwund, Bettnässen, Homosexualität, Krebs, Tuberkulose u.v.m.

Viele führte man nämlich auf die Masturbation als Ursache zurück, mit deren Verhinderung - oder zumindest Erschwerung - mittels einer Zirkumzision man die Krankheiten in den Griff zu bekommen gedachte.

Keine dieser abenteuerlichen Thesen hat sich je als richtig erwiesen, basierten sie doch zumeist auf Sexualfeindlichkeit, ideologischem Wunschdenken, Vermutungen, oberflächlichen Beobachtungen und falschen Schlüssen. Mit der Entdeckung von Bakterien und Viren fielen etliche in sich zusammen - andere folgten im Zuge weiterer wissenschaftlicher Erkenntnisse.

So sollte ein seriöser Journalismus mehr als reichlich Anlass zu sorgfältiger Recherche sehen, wenn wieder einmal neue segensreiche Wirkungen im Zusammenhang mit Vorhautamputationen propagiert und gar mit riesigen Geldern finanziert werden - als “Entwicklungshilfe” getarnt.

Die Journalistin Simone Schlindwein, im International Correspondents Media Network als “eine der versiertesten Afrika-Journalistinnen Deutschlands” angepriesen und u.a. für die taz und das Deutschlandradio tätig, hat nun auf der Deutschen Welle einen bemerkenswerten Artikel veröffentlicht. Dieser liest sich mehr wie eine Produktwerbung als wie ein sauber recherchierter Hintergrundbericht. Man fragt sich, wie er es überhaupt durch die Qualitätssicherung einer öffentlich-rechtlichen Anstalt schaffen konnte.

Es geht um ein Amputationsgerät namens pre-pex, das für Massenbeschneidungen in Afrika verwendet wird. Frau Schlindweins Bericht ist in seiner völligen Kritiklosigkeit und dem Fehlen jeglicher Recherche derart beispiellos, dass sich einige Fragen geradezu aufdrängen.

So steht unter der Überschrift zu lesen: “Mit einem Gummiring werden jetzt in Uganda Männer beschnitten: ganz ohne Blut, Eingriff oder Schmerzen - der neueste Schrei in der Aids-Prävention.”

Es soll also angeblich “ohne Eingriff” von statten gehen. Offen bleibt: was ist eine Vorhautamputation, bei der gesundes Gewebe durch krudes Abquetschen der Blutversorgung zum Absterben gebracht wird, denn dann - ein magischer Vorgang etwa, der die Vorhaut á la Copperfield verschwinden lässt?

Doch damit noch nicht genug - “ohne Schmerzen”, so schreibt Frau Schlindwein, liefe die Operation ab. Das klingt fast zu schön um wahr zu sein. Glaubt man dem Hersteller - der nun wohl ohne Zweifel ein Interesse daran haben dürfte, sein Produkt im bestmöglichen Lichte erscheinen zu lassen - so ist es das auch. Denn auch wenn seinerseits damit geworben wird, es gäbe noch “other health and hygiene benefits” (dtsch. “andere gesundheitliche und hygienische Vorteile”), auf die dann aber erstaunlicherweise nicht weiter eingegangen wird, so wagt nicht mal er es, eine so kühne Behauptung wie Frau Schlindwein aufzustellen. Ein Blick auf die Homepage des pre-pex-Herstellers fördert dann auch ein ganz anderes Statement zum Thema Schmerzen zu Tage: “No method of adult male circumcision is completely painless. However, men using PrePex report less pain than men who undergo surgical circumcision.” (dtsch. “Keine Methode von männlicher Beschneidung bei Erwachsenen ist komplett schmerzlos. Dennoch berichten Männer, die PrePex benutzt haben, von weniger Schmerzen als Männer, die sich auf chirurgische Art haben beschneiden lassen.”)

Aha. Also doch Schmerzen. Warum bewirbt Frau Schlindwein das Verstümmelungsprodukt sogar mit noch glorifizierenderen Worten als sein Hersteller? Will sie sich - ihre reisserische Wortschöpfung vom “neuesten Schrei in der AIDS-Prävention” weist darauf hin - für einen Job in der Werbebranche qualifizieren: “Beschnittener Penis: jetzt noch mehr Reinheit bei 30°, damit sie auch morgen noch kraftvoll zustossen können”? Oder soll die Operation damit einfach in ein möglichst positives Licht gerückt werden? Was für Motive stehen hinter Frau Schlindweins offensichtlicher Schönfärberei? Möchte sie durch solche jeden medizinischen Sachverstand hohnsprechenden Falschbehauptungen vielleicht den breiten gesellschaftlichen Widerstand gegen die in Deutschland kürzlich legalisierte Zwangsbeschneidung von Jungen aus jeglichem Grunde mindern?

Aber: auch die weitaus zurückhaltenderen Angaben des Herstellers werfen Fragen auf, die Frau Schlindwein offenbar entgangen sind. Laut diesen berichten mit dem Pre-pex “beschnittene” Männer von weniger Schmerzen als bei einer chirurgisch ausgeführten Vorhautamputation. Woher wissen diese Betreffenden das? Wer soll diesen Vergleich beurteilen? Oder wurden diese Probanden etwa gleich zweimal “beschnitten” - einmal von einem Chirurgen und dann noch einmal mit dem neuen Wundergummi?

Auf der selben Webseite wird übrigens auch etwas erwähnt, dass sich wie der Hinweis auf Menschenversuche am lebenden Objekt liest: “Several African countries are currently investigating the safety and efficacy of the PrePex procedure for adolescent men, and study results should be available in early 2014.” (dtsch. “Mehrere afrikanische Länder untersuchen gerade die Sicherheit und Effizienz der PrePex- Methode für heranwachsende Männer, und Ergebnisse sollten zu Beginn 2014 verfügbar sein.”)

Ginge es hier um Versuche mit Hustensaft oder Kopfschmerzmitteln, der Aufschrei wäre enorm. Bei der Amputation eines Körperteils hingegen scheint das kein Problem zu sein - wohl, weil es sich ja “nur” um Jungen, und zumal afrikanische, handelt.

Frau Schlindwein berichtet natürlich auch nicht über eine an sich gebotene Aufklärung über Risiken und Folgen eines solchen Eingriffs, bei dem durchschnittlich 50 Prozent der gesamten am Penis befindlichen Haut - inkl. des aufgrund seiner epidermischen Struktur sensibelsten Teils - irreversibel amputiert wird. Im Gegenteil, der Artikel stellt recht deutlich heraus, dass keine von den geschilderten Personen offensichtlich auch nur den leisesten Schimmer davon hat, was da genau auf ihn zukommt - oder besser gesagt, was man ihm dort nimmt, und welche Folgen das mit sich bringen kann.

Ihrer nicht vorhandener Recherche ist auch noch entgangen, dass die Studien, die beschnittenen Männern ein um bis zu 60 Prozent verringertes Ansteckungsrisiko mit HIV andichten und als einzige Basis für die gesamte Aktion herhalten müssen, höchst umstritten und durch zahlreiche Faktoren wissenschaftlich angreifbar sind. Ebenso bleibt unerwähnt, dass von zwölf afrikanischen Ländern mit hohen AIDS-Raten die beschnittenen Männer nur in fünf, die intakt gebliebenen Männer hingegen in sieben Ländern eine geringere Infektionsrate aufweisen. Bloß nicht zu viele Fakten!

Hauptsache, Jungen und Männer legen sich wie Schafe auf die OP-Bank. Es handelt sich ja nur um Afrikaner! Die glauben eh alles, wenn man ihnen für anschließend einen Essensgutschein verspricht. Willkommen im Kolonialismus des 21. Jahrhunderts!

Kümmern wir uns nun um die in der Tat riesige Problematik der Verbreitung von HIV-Infektionen in Afrika. Was wäre denn ein um 60 Prozent verringertes Ansteckungsrisiko überhaupt wert? Ein Kondom ersetzen kann dies jedenfalls nicht. Mit Kondom macht eine Beschneidung wiederum keinen Unterschied mehr! Der angeblich 60 prozentige Schutz vor HIV-Ansteckung - der alleinige Anlass für die Propagierung der Vorhautamputation - kann schließlich nur dann zum tragen kommen, wenn kein Kondom benutzt wird. Mit Kondom besteht weit über 99 prozentiger Schutz. Dies gilt völlig unabhängig davon, ob darin ein vollständiger oder ein chirurgisch oder mittels prepex-Zauberei zurecht gestutzter Penis steckt.

Frau Schlindwein schreibt in ihrer Werbebotschaft gar, eine “Beschneidung” verhindere eine HIV Ansteckung “nicht zu 100 Prozent”. Damit hat sie Recht: vielleicht sind es sogar nur NULL Prozent.

Diese Unklarheit resultiert aus den vielen Fragezeichen, die hinter den zugrundeliegenden Studien stehen und Gegenstand von Frau Schlindweins Arbeit hätte sein müssen. Es geht bei diesem Thema um Menschenleben und einen irreversiblen Verlust funktionaler Körpersubstanz, auf den Frau Schlindwein bei sich selbst sicher nicht ohne weiteres verzichten würde. Ihre unreflektierten Behauptungen wiegen Menschen in trügerischer Sicherheit und können schnell zu riskanterem Sexualverhalten führen. Was suggeriert ihre Überschrift “Ein Gummiband GEGEN AIDS” anderes?

Frau Schlindwein und alle PropagandistInnen für derartige Vorgehen argumentieren also nicht nur unseriös, sondern auch grob fahrlässig und riskieren unzählige Menschenleben, indem der Eindruck erweckt wird, eine Beschneidung käme einem seriösen Schutz vor HIV nahe. Wie auch sonst sollte man Männer dazu bringen, sich von einem so wertvollen Körperteil an intimster Stelle zu trennen. Die so in die Welt gesetzte irrige Annahme, auf das bei vielen Männern ungeliebte Kondom verzichten zu können, hat sich bislang als wirkungsvolles Zugpferd erwiesen.

Belegten noch mehrere Studien aus den Jahren 1991, 1997 und 1998 diese Tendenz, so kommt dieser Tage eine US-Studie zu einem anderen Ergebnis: auch unter Beschnittenen soll der Gebrauch von Kondomen angestiegen sein. Nicht zuletzt an dieser positiven Nachricht lässt sich erkennen, dass sich dieses “unbeabsichtigte Missverständnis” auch in Afrika nicht lange wird aufrecht erhalten lassen. Auch dort werden die Männer sich der Sinnlosigkeit dieser Operation bewusst werden, wenn ihnen klar wird, dass bereits der 99+prozentige Schutz eines Präservatives nicht nur das vermutete verminderte Ansteckungsrisiko durch eine erfolgte Zirkumzision bei weitem übersteigt, sondern es (im Gegensatz zu Beschneidung) auch die Sexualpartnerin schützt.

Sämtliche Studien bezogen sich nämlich nur auf die Übertragung von der Frau zum Mann, und keineswegs umgekehrt. Ein entscheidendes Detail aus weiblicher Perspektive - nur für Frau Schlindwein offensichtlich vernachlässigenswert.

Dies alles scheint auch den BeschneidungsvermarkterInnen durchaus bewusst zu sein. Es wird an dem Bestreben deutlich, das Alter der “Patienten” (oder treffender: Opfer einer breit angelegten Verdummungskampagne) immer weiter zu senken. Denn nur durch die erfolgreiche Etablierung einer routinemäßigen (Klein-)Kindesbeschneidung lassen sich die allen Ernstes konkret angestrebten “Beschneidungsquoten” erfüllen. Wer seine Sexualität gar nicht erst anders kennengelernt hat, kann die Nachteile einer Zirkumzision besser zu Gunsten angeblicher Vorteile verdrängen, und die z.T. neu geschaffene Tradition am eigenen Nachwuchs fortführen. Je höher die Beschneidungsrate, desto effektiver greift der Teufelskreis der intergenerationellen Gewaltweitergabe.

Niemand, auch Frau Schlindwein nicht, scheint sich dafür zu interessieren, dass durch den zunehmenden Wegfall der Freiwilligkeit sowie auch durch die fehlende Aufklärung über Risiken und lebenslange Folgen damit auch das Prinzip der “Voluntary Medical Male Circumcision”, wie sie von der WHO beworben wird, komplett pervertiert wird. Eine “Freiwilligkeit” ist bei Kindern mangels Urteilsfähigkeit nicht gegeben. So wird aus einer freiwilligen Prozedur zur angeblichen Gesundheitsvorsorge schließlich eine Zwangsbeschneidung. Und da es sich bei den Betroffenen ja “nur um Jungen” handelt, findet dies weltweit keine Beachtung.

Die logischste aller Fragen, die bleiben, ist folgende: wenn, wie beschrieben, der Gebrauch von Kondomen weiterhin unerlässlich ist - der vermutete Schutzeffekt der Zirkumzision kann ja, wie bereits erwähnt, überhaupt nur bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr auftreten - was soll dann das Ganze überhaupt? Warum bewirbt man dann nicht – wie in Europa auch - Kondome und Safer Sex und lässt auch afrikanische Jungen und Männer mit heilen und vollständigen Genitalien leben?

Oder wie ein junger Mann in einem afrikanischen Onlinejournal kürzlich als angeblich “beratungsresistent” zitiert wurde: “If I must use a condom anyway - why the hell should I get circumcised?” (dtsch. “Wenn ich sowieso ein Kondom benutzen muss – warum zum Teufel sollte ich beschnitten werden?”)

Ja, warum eigentlich, Frau Schlindwein?