Zum ersten Mal in der fast 400-jährigen Geschichte der Harvard University leitet ein säkularer Humanist die seelsorgerischen Aktivitäten der amerikanischen Elite-Uni. Greg Epstein, der durch sein Buch "Good without God" ein breites Publikum mit säkularen Ideen bekannt machte, wurde im vergangenen Monat zum Präsidenten der Chaplains auf dem Campus gewählt.
Seit Anfang September koordiniert Epstein die Tätigkeit von mehr als 40 "University Chaplains" der verschiedenen Religionsgemeinschaften in Harvard, darunter christliche, jüdische, buddhistische, hinduistische und andere. Auch ein humanistischer Chaplain ist dort vertreten, Epstein selbst hatte das Amt seit 2005 bekleidet. Die Chaplains stehen den Studierenden als Ansprechpartner in ethischen Fragen und bei Prozessen der individuellen Sinnfindung zur Verfügung.
Epstein betrachtet den Humanismus als Philosophie, in deren Mittelpunkt die menschliche Moral steht – als eine unter vielen Weltanschauungen in Harvard. Seine Aufgabe im neuen Amt sei es, "die unglaubliche Lebendigkeit der Programme herauszustellen, für die sich meine Kolleginnen und Kollegen als Chaplains engagieren", so der frisch gewählte Präsident in einem Interview.
Ein pluralistisches Programm also, das auf weltanschauliche Vielfalt setzt. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die Wahl einstimmig erfolgte. Beobachter werten die Entscheidung als Reaktion darauf, das viele Jüngere sich selbst als spirituell betrachten, eine Bindung an bestimmte Religionsgemeinschaften jedoch ablehnen. "Es gibt eine wachsende Anzahl von Menschen, die sich nicht mehr mit religiösen Traditionen identifizieren, aber dennoch das Bedürfnis spüren, sich über Fragen der Ethik und eines moralisch gelungenen Lebens auszutauschen", so Epsteins Beobachtung.
Bestätigt wird sein Eindruck durch die jährlichen Befragungen, die in den letzten Jahren kontinuierlich steigende Quoten von atheistischen und agnostischen Studienanfängerinnen und -anfängern in Harvard auswiesen. So wuchs der Anteil der Agnostiker von 18,3 Prozent im Jahr 2017 auf 21,3 Prozent im Jahr 2019. Bei den Atheisten war im gleichen Zeitraum ein Anstieg von 14,1 Prozent auf 16,6 Prozent zu verzeichnen. Dagegen haben die großen Glaubensgemeinschaften deutlich an Anhängerschaft eingebüßt. Während sich 2017 noch 22,3 Prozent der Studienanfänger dem katholischen Glauben zurechneten, waren es 2019 nur noch 17,1 Prozent. Ähnlich sieht es bei den Protestanten aus: Ihr Anteil sank von 20,1 Prozent (2017) auf 17 Prozent (2019).
Ein vergleichbarer Trend zeigt sich in der US-amerikanischen Gesamtbevölkerung. So verzeichnete das Meinungsforschungsinstitut Pew Research Center 2019 einen raschen und stetigen Rückgang an christlichen Gläubigen. 43 Prozent der Befragten sahen sich 2019 als Protestanten – 2009 waren es noch 51 Prozent gewesen. Der Anteil der Katholiken sank im gleichen Zeitraum von 23 auf 20 Prozent. Währenddessen stieg die Quote der Personen ohne religiöse Bindung erheblich. Darunter werden in der Befragung Atheisten, Agnostiker und Personen mit "keiner besonderen" religiösen Überzeugung (nothing in particular) zusammengefasst. Der Anteil der Atheisten verdoppelte sich von 2 auf 4 Prozent, bei den Agnostikern gab es einen Anstieg von 3 auf 5 Prozent, und die Quote der Personen ohne besondere religiöse Überzeugung wuchs von 12 auf 17 Prozent.