Gefühle haben im politischen Raum einen schlechten Ruf. Politische Entscheidungen, so das klassische Dogma, sollten rational und vernünftig getroffen werden, keinesfalls emotional. Doch die Realität sieht von jeher anders aus. Welche Bedeutung Gefühle für politische Ereignisse, für den Aufstieg und Fall von Herrschenden haben und hatten, ist das zentrale Thema von Ute Frevert und ihrem Team am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Ihre Erkenntnisse über die Vergangenheit erhellen auch manch aktuelle Geschehnisse.
Von Angela Merkel wird nach 16 Jahren im Kanzleramt sicher eines im Gedächtnis bleiben: ihr nüchterner, rationaler Stil. Nur selten ließ sie sich dazu hinreißen, offen ihre Gefühle zu zeigen. Und doch sind es gerade die emotionalen Momente ihrer Kanzlerschaft, die in der Rückschau hervorstechen: Merkels Torjubel, als die deutsche Nationalelf 2014 Weltmeister wurde, ihre Entscheidung, syrischen Flüchtlingen in der Notlage 2015 die Grenzen zu öffnen, ihre eindringlichen Appelle, in der Coronakrise auf Kontakte zu verzichten, um gefährdete Mitmenschen zu schützen, oder die sichtliche Rührung, mit der sie ihren Amtskollegen Emmanuel Macron beim Abschiedsbesuch in Frankreich umarmte.
Warum sind uns diese Emotionen so wichtig? Reicht es nicht, die politische Linie der Bundeskanzlerin zu kennen? Warum interessiert es uns, worüber sie sich freut oder was sie bewegt? Eine erste Antwort ist: weil wir Menschen sind und uns als soziale Wesen für die Gefühle anderer Menschen interessieren. Weil wir eben keine rationalen Nutzenmaximierer sind, wie es viele Wirtschaftstheorien idealisiert behaupten. Im Gegenteil: Gefühle spielen überall eine Rolle, wo Menschen miteinander zu tun haben, und damit auch in der Politik. Im Fall von Angela Merkel hat ihr vermutlich genau die Verbindung von sachorientierter Politik, zurückhaltendem Auftreten ohne Selbstdarstellung und eben jenen raren, aber ungekünstelten emotionalen Momenten Anerkennung und Vertrauen in der Bevölkerung eingebracht.
Gunst gewinnen, Macht sichern
Um genauer zu verstehen, welche Rolle Gefühle in der Politik spielen, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit. Auch die historische Forschung hat das Thema Emotionen lange Zeit vernachlässigt. Dass sich das seit einigen Jahren ändert, ist ganz wesentlich ein Verdienst von Ute Frevert, Direktorin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. "Wer wissen will, wie es kommt, dass sich Menschen vergesellschaften, dass sie gemeinsame Ziele entwickeln und verfolgen, dass sie sich aber auch wieder entzweien, getrennte Wege gehen, sich verfeinden und einander Schaden zufügen, kann Gefühle und deren Gestaltungskraft nicht geringschätzen", begründet die Historikerin ihren Ansatz. Die Ergebnisse ihres Forschungsbereichs zeigen, dass viele Aspekte der Geschichtsschreibung in neuem Licht erscheinen, wenn Emotionen wie Angst, Wut und Hass, aber auch Hoffnung, Vertrauen und Mitleid in die Analysen einbezogen werden. So lässt sich beispielsweise beleuchten, wie sich das Verhältnis zwischen Volk und Regierenden in der Vergangenheit entwickelt und gewandelt hat.
Ute Frevert hat dazu die Entwicklungen seit der Französischen Revolution in den Blick genommen. Der epochale Umsturz, der 1789 in Paris begann, führte zu grundlegenden Änderungen in ganz Europa. Das Volk war mit Macht auf die politische Bühne getreten. Nach der Absetzung und Hinrichtung des französischen Königspaares mussten sich die europäischen Monarchen um ihre Sicherheit und ihren Herrschaftsanspruch sorgen. Hier kommt ins Spiel, was Ute Frevert als "Gefühlspolitik" definiert hat – dass Machthaber sich aktiv darum bemühen, ihre Untertanen emotional für sich einzunehmen: "Gefühlspolitik war eine Möglichkeit, die eigene Macht zu sichern", erläutert Frevert. "Macht braucht 'Fügsamkeit', wie es der Soziologe Max Weber genannt hat, also die Zustimmung der Beherrschten. Diese Fügsamkeit lässt sich natürlich durch Gewalt herstellen. Es funktioniert aber besser, wenn die Menschen sich freiwillig fügen. Dazu muss man sie überzeugen, oder, noch besser, ihnen Vertrauen einflößen, ihre Zuneigung gewinnen, vielleicht sogar ihre Liebe."
Könige mussten Bürger hofieren
Eine Möglichkeit, dieses Ziel zu erreichen, war, den Bürgern positive Gefühle zu zeigen, sei es in öffentlichen Grußbotschaften, in Bekanntmachungen oder bei persönlichen Auftritten. Frevert hat dafür zahlreiche Belege gefunden, etwa einen Brief der preußischen Königin Luise, die 1798 an ihren Bruder schrieb: "Ich werde alles anwenden, um ohne Zwang die Liebe der Untertanen durch Höflichkeit, zuvorkommendes Wesen, Dankbarkeit (…) zu gewinnen und zu verdienen." Für die hohen Damen und Herren war die Inszenierung ihrer Volksliebe nicht immer erquicklich, wie ein weiterer Brief zeigt, den Luise 1794, damals noch Kronprinzessin, an ihren Mann richtete. Anlass war eine Einladung des Thronfolgerpaares zu Kaffee und Kuchen bei der Potsdamer Schützengilde. "Denk Dir nur, was für eine reizende Vergnügungspartie uns heute erwartet", schreibt sie süffisant. "Was bleibt uns also übrig, wir müssen, wollen wir oder nicht, uns schmoren lassen und vielleicht sogar toll werden, um die Ehre zu haben, den Bürgern die cour zu machen." Die Herrschenden fühlten sich verpflichtet, ihrem Volk den Hof zu machen.
Die Anekdote zeigt dabei auch die andere Seite der Gefühlspolitik, die Ute Frevert in ihrer Forschung ebenfalls betont: "Die Bürger sind ja keine passiven Empfänger emotionaler Botschaften und reagieren auf die Signale von oben nicht per se mit Wohlwollen, sondern sie haben Erwartungen, Vorlieben, vielleicht sogar Forderungen. Und da liegt das Risiko für den Herrscher: Wer um die Liebe der Bürger wirbt, kann scheitern. Und er signalisiert auch noch, dass er es nötig hat. Er gibt also damit gewissermaßen einen Teil seiner Macht ab."
Dieses Dilemma verschärfte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts, als der Trend zu Demokratisierung und Teilhabe der Bürger zunahm (die Frauen waren damals oft noch ausgeschlossen). Die Verbindung zwischen Herrscherhaus und Volk musste daher immer aufs Neue gepflegt und lebendig erhalten werden. Eine Möglichkeit waren Festlichkeiten zum Geburtstag des Königs, die in den Städten und Gemeinden äußerst beliebt waren. Wobei es "das Volk" schon damals so nicht gab. Die ständische Gesellschaft mit ihrer fixen Gliederung in Adel, Klerus, Bürger und Bauern löste sich gerade endgültig auf und machte der bürgerlichen Klassengesellschaft Platz. Darin bildeten sich unterschiedliche Gruppen, Parteien und soziale Bewegungen, deren Interessen teilweise deutlich auseinandergingen. Wohl auch deswegen breitete sich die Idee des Nationalismus zu dieser Zeit so schnell und erfolgreich aus: Sie wirkte als einende Kraft, veränderte aber auch die Rolle der Herrschenden: Der König, die Königin oder der Kaiser wurden zu nationalen Identifikationsfiguren und zu obersten Repräsentanten der Nation. Die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger stiegen entsprechend.
Autogrammkarten vom Kaiser
Ute Frevert hat herausgearbeitet, dass in dieser Zeit die Sehnsucht im Volk wuchs, dem König oder Kaiser persönlich nahe zu kommen, ihn zu sehen, ihm vielleicht sogar die Hand zu drücken. Signierte Fotografien des deutschen Kaisers waren um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert äußerst populär, wie zahlreiche Autogrammanfragen an Wilhelm II. belegen. Männer, wie die Mitglieder rheinischer Kriegervereine, formierten sich zum Spalier, wenn der Kaiser in ihrer Gegend unterwegs war, um ihm bei der Durchreise die Ehre zu erweisen. Dabei ging es ihnen aber auch darum, von ihm gesehen zu werden, wie eine zeitgenössische Quelle beschreibt: "[…] ein Blick aus seinem lieben Auge sollte ihnen wohltun, sie wollten empfinden, dass sein Auge noch für sie da ist". Umso größer waren Enttäuschung und Empörung, als Wilhelm II. 1906 auf einer Reise im Rheinland an den Männern, die ihn erwarteten, mit dem Automobil einfach vorbeiraste.
Allerdings richteten sich Liebe und Anhänglichkeit der Bürgerinnen und Bürger ohnehin nicht automatisch auf den Kaiser – oder zumindest nicht auf ihn allein, wie Frevert darlegt. Ein guter Hinweis darauf sind Bilder von Politikern, die in den deutschen Wohnstuben hingen. "Da fanden sich zum Beispiel Porträts von Otto von Bismarck und Königin Luise, aber nicht unbedingt vom Kaiser selbst", berichtet die Historikerin. "Oder manche Sozialdemokraten hängten neben das Bild vom Monarchen ihre Helden der Arbeiterbewegung wie Ferdinand Lassalle oder August Bebel."
Die ersten demokratisch gewählten Herrscher genossen zum Teil ähnliche Verehrung wie ihre aristokratischen Vorgänger. Das lässt sich auch für den ersten US-amerikanischen Präsidenten George Washington beobachten. Kerstin Maria Pahl, eine Forscherin im Team von Ute Frevert, hat sich genauer mit ihm und seiner Zeit befasst. "Washington war damals durchaus umstritten", erklärt Pahl. "Es ging unter anderem um die Frage, wie viel Macht bei der Zentralregierung liegt und wie viel bei den Einzelstaaten – übrigens einer der Ursprünge der heutigen politischen Gegensätze in den USA." Und trotzdem, erzählt Pahl, waren gemalte oder gedruckte Kopien von Porträts von George Washington schon während seiner Amtszeit weit verbreitet. "Sie hingen in Privathäusern, in Gaststätten, in öffentlichen Gebäuden, sie wurden in Alben gesammelt. Es gab damals eine enge emotionale Bindung an den neuen Staat, das zeigen viele Berichte aus der Gründungszeit der USA. Und diese starken Gefühle galten auch dem Präsidenten."
Wutanfälle statt Besonnenheit
Kerstin Maria Pahl wurde in Kunst- und Bildgeschichte promoviert. In ihren Untersuchungen erfasst sie deshalb auch, welche Gefühlshaltung die Herrschenden in den Bildern verkörpern. Das sogenannte Lansdowne-Portrait, eines der berühmtesten Gemälde von George Washington, zeigt den amerikanischen Präsidenten in der Tradition europäischer Könige mit einem Ausdruck von Entschlossenheit, aber gleichzeitig ruhig und besonnen. Das Bild sagt damit viel über die zeitgenössischen Ideale, die man von einem Staatsoberhaupt und dessen Gefühlsäußerungen hatte. "Eine der wichtigsten Anforderungen damals spiegelt sich sehr treffend in dem Begriff "composure" wider. Er beschreibt eine gefasste Gemütsruhe, unter der sich eine tiefe Emotionalität, ja sogar eine Passion verbirgt, die aber nur sehr moderat nach außen getragen wird." Von Washington ist ein Auftreten in diesem Sinne vielfach überliefert, ebenso von vielen seiner Nachfolger.
Der 45. Präsident der Vereinigten Staaten brach sichtbar mit dieser Tradition. Donald Trump fiel in seiner Amtszeit durch Wutausbrüche, Ausfälligkeiten, ja allgemein durch – vermeintlich – impulsives Verhalten auf. Und das ganz bewusst, vermutet Kerstin Maria Pahl. Um den Bruch einzuordnen und den Erfolg dieses Vorgehens zu verstehen, muss einem klar sein: In der Gesellschaft und ihren Institutionen existiert eine Vielzahl ungeschriebener Regeln, die festlegen, welche Gefühle man im jeweiligen Kontext in welcher Weise ausdrücken darf. So wird ein und dieselbe Person im Parlament ihre Emotionen anders zum Ausdruck bringen als in der Familie und wiederum anders bei einem Besuch im Seniorenheim. Diese Normen sind zudem immer wieder im Wandel. Pahl nennt als Beispiel Politik und Fußball. Noch Ende der 1990er-Jahre hatte Fußball eher ein Schmuddelimage. Erst seit der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland beschäftigen sich Intellektuelle auch in der Öffentlichkeit damit. Seither können auch hochrangige Politikvertreter im Stadion ihrem Jubel freien Lauf lassen, wie 2014 Bundeskanzlerin Merkel und Bundespräsident Gauck bei der Fußball-WM in Brasilien. Das war übrigens eine der sehr wenigen Gelegenheiten, bei denen die beiden gemeinsam an einem Ort waren – ansonsten war das vor allem bei den Gedenkfeiern für die Opfer des Nationalsozialismus im Bundestag der Fall.
Ein Wandel solcher Gefühlsnormen kann allmählich erfolgen oder durch einen bewussten Bruch. "Manchmal gibt es so etwas wie einen tipping point, an dem die alten Regeln plötzlich nur noch wie erstarrte Konventionen wirken, geradezu mumifiziert", erläutert Pahl. "Wenn dann jemand kommt und gezielt sagt: 'Das interessiert mich nicht mehr, wie ihr das gemacht habt, ich mache das neu!' kann das sehr verführerisch sein." Eine Abkehr von alten Konventionen kann bahnbrechend wirken, revolutionär und mutig, wenn die Zeit reif dafür ist. Donald Trump war möglicherweise im US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Und er konnte mit seinem Auftreten Menschen mobilisieren, die sich von der Attitüde und der Sprache der bisherigen politischen Elite nicht mehr repräsentiert oder ausgeschlossen fühlten.
Interessant ist, dass Medien im In- und Ausland Donald Trump gerade im Kontext seiner Coronapolitik auffällig oft als "kaltherzig" oder "gefühllos" beschrieben. Kerstin Maria Pahl hat diese Zuschreibung aus der historischen Perspektive analysiert. Demnach war Gefühllosigkeit schon in der Aufklärung im 18. Jahrhundert ein äußerst negatives Attribut. Adam Smith, schottischer Moralphilosoph und Begründer der klassischen Nationalökonomie, der heute vor allem für seine Theorie der unsichtbaren Hand des Marktes bekannt ist, sah im Mitfühlen die Basis für den sozialen Zusammenhalt. Gefühllosigkeit dagegen galt ihm als die härteste Form der Ausgrenzung, denn sie leugne die grundsätzliche Ähnlichkeit der Menschen. "Der Vorwurf der Kaltherzigkeit war bereits in der Vergangenheit oft ein Kampfbegriff, um Gegner zu diffamieren und sich selbst von ihnen abzugrenzen", sagt Pahl. "Allerdings gibt es auch den Effekt, dass bestimmte Formen von Emotionslosigkeit oder Gleichgültigkeit durchaus positiv gewertet werden können: als unvoreingenommen, sachlich oder einfach als sehr cool."
Denken und Fühlen sind nicht zu trennen
Letztlich sind Gefühlsäußerungen, ihre Wahrnehmung und Auslegung oft mehrdeutig, die dahinterliegenden Normen ändern sich immer wieder. Eindeutig ist dagegen: Gefühle sind aus der Politik nicht wegzudenken. Und sie lassen sich auch nicht vom rationalen Denken und Entscheiden trennen – übrigens auch deswegen nicht, weil Denken und Fühlen im menschlichen Gehirn eng aufeinander bezogen sind, wie Ute Frevert hervorhebt.
Darüber hinaus zeigt sich mit Blick auf die Geschichte: Je mehr Menschen an Politik teilhaben können, desto mehr und desto vielfältiger werden die Emotionen, die eine Rolle spielen. Frevert illustriert das mit einem aktuellen Beispiel: "Wenn Sie auf dem Marktplatz stehen – das war ja ein Bild, das Olaf Scholz im Wahlkampf gerne verwendet hat – und es pfeift aus der einen Ecke und aus der anderen Ecke jubelt es, dann müssen Sie darauf eingehen, aber ohne mit der Faust auf den Tisch zu schlagen oder selber in Geschrei auszubrechen. Dieses emotionale Management wird schwieriger in dem Maße, in dem Politik zu einer Sache der vielen wird." Wie Politikerinnen und Politiker damit umgehen, daran müssen sie sich wohl künftig messen lassen, allen voran der neue Bundeskanzler Olaf Scholz. (Mechthild Zimmermann/mpg)