Der ungarische Filmregisseur István Szabó wird heute 69 Jahre alt. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat gewaltige Verkehrungen
von Toleranz und Humanität in Mitteleuropa gezeigt. Es ist das Verdienst des Filmemachers Szabó, diese Verwerfungen aus humanistischer Sicht seziert zu haben. Er spricht von Lebenshilfe, die er mit seinen Filmen dem Zuschauer vermitteln will. Dies gilt aber in einem besonderen Sinne: er führte die Gefährdungen moralischer Autonomie, der nationalen und sozialen Identität des Einzelnen in Alltagsgeschichten wie in großen Inszenierungen der Historie vor, ohne zu moralisieren, aber immer, um zu erschüttern.
Die Verantwortung des Humanisten István Szabó ist ablesbar an seinen Antworten, die er auf die Irrwege der Mitteleuropäer – den Faschismus und den Stalinismus – gegeben hat. <Literatur>
István Szabó, der am 18.Februar 1938 in Budapest geboren wurde, kann auf ein Lebenswerk von 14 Spielfilmen, einigen TV-Produktionen und mehreren, auch international beachteten Kurzfilmen – letztere entstanden 1961 bis 1976 – zurückblicken (vgl. <IMDb Movie Database>). Seitdem er für seine internationale Koproduktion MEPHISTO 1982 einen Oscar erhielt, galt er nicht mehr nur als der ungarische Autorenfilmer, der Anfang der sechziger aus dem berühmten Experimental- und Nachwuchsstudio „Béla-Balázs“ hervorgegangen war, sondern als Regisseur eines international repräsentativen europäischen Kinofilms.
Seit MEPHISTO entwickelte sich Szabó zu einem Universalisten der europäischen Künste. In seiner Literaturverfilmung von Klaus Manns Roman aus dem Jahre 1936 zeigte er, wie souverän er mit Goethes FAUST und der Vielfalt des Theaters – vom klassischen Stück bis zu Brecht und Kabarett – umgehen konnte. In BEING JULIA (2004) verfilmte er meisterhaft ein Stück des Engländers Somerset Maugham. In ZAUBER DER VENUS (1990) erzählt er von den Auseinandersetzungen und Komplikationen, die ein Dirigent aus Budapest zur Zeit der Wiedervereinigung Europas mit der Inszenierung von Richard Wagners TANNHÄUSER an einer Pariser Oper durchlebt.
Zusammen mit seinem Kameramann Lajos Koltai schuf er monumentale Kinobilder, die Architektur und bildende Kunst als dramatische Elemente der Szenografie nutzten (in der Trilogie der 80er Jahre MEPHISTO, OBERST REDL, HANUSSEN; in dem jüdischen Familienepos von fünf Generationen SUNSHINE/ EIN HAUCH VON SONNENSCHEIN, 1999; in TAKING SIDES – DER FALL FURTWÄNGLER, 2001).
Es ist das bleibende Verdienst Szabós, in einer Zeit der Allmacht der Massenkultur und des von Hollywood bestimmten mainstreams ein europäisches Kino vertreten zu haben, das sich mit den humanistischen Botschaften der europäischen Kunst (Epik, Drama, Schauspiel, Oper) konsequent auseinandersetzte und mit beeindruckenden Erzählstrategien Gefühle der Verantwortung bei den Zuschauern auslösen konnte. Bereits in seinem ersten Kurzfilm VARIATIONEN AUF EIN THEMA (1961), der Film erzählt wie ein Vater mit seinem Sohn ein Waffenmuseum besucht, führte der junge Autorenfilmer eine filmsprachlich experimentelle Auseinandersetzung mit dem Krieg als einem Grundübel der europäischen Geschichte.
In seinem ersten Spielfilm ALTER DER TRÄUMEREIEN (1964), einem im Stil der Nouvelle Vague erzählten Generationsspiegelbild, durchbricht Szabó die ansonsten durchgängige Gegenwartsebene mit Dokumentarfilmmaterial aus der Zeit des 2.Weltkrieges, der Zeit des Faschismus und der nationalen Erschütterungen um den Budapester Aufstand von 1956. Das thematische Motiv „Individuum und Geschichte“ zieht sich durch sein gesamtes Werk wie ein roter Faden. Die Ausgangspunkte des Autorenfilmers sind in seinen Generationserfahrungen begründet, die in Kindheit und Jugend von Kriegs-, Nachkriegszeit, von der Zeit des Personenkults unter Mátyás Rákosi und der nationalen Erhebung von 1956 geprägt wurden.
Hinzu kommt, das die Nähe zu Budapester Juden und zu ihren Schicksalen sich durch die Filme der Autorenfilmerphase der sechziger und siebziger Jahre mit eindrucksvollen Szenen und Nebenfiguren – z.B. in VATER (1966) und in FEUERWEHRGASSE 25 (1973) – durchzieht und in der humanistischen Sicht auf die Identität der ungarischen Juden, auf ihre in der Historie von Leiden und Vernichtung in Frage gestellte Hoffnung auf Toleranz, Liebe und Gerechtigkeit im Epos SUNSHINE (1999) kulminiert.
Die Sicht auf die Geschichte Mitteleuropas wird bei Szabó nicht von einer vordergründigen Illustration der politischen Geschichte getragen. Er sieht vielmehr in dem Spannungsverhältnis von Individuum und Geschichte das Bezugsfeld humanistischer Verantwortung des Künstlers, die sich auf Charaktere, Schicksale, Katastrophen von Menschen unter politischem Druck und Repression konzentriert: „Die Geschichte griff vielleicht niemals, nirgendwo anders so drastisch, so permanent und unausweichlich in das alltägliche Leben, das Schicksal, die Verbindungen der Menschen ein, wie in dieser Region der Erde.“ [vgl. András Szegö: Ingerelnek a felfuvalkodott, gögös emberek… In: Képes 7, 1987, 2)].
Und an anderer Stelle: „Für mich ist der Unterschied zwischen Mitteleuropa und Europa, dass wir hier etwas…gemeinsam haben und das ist unsere Vergangenheit…Wir wissen etwas, was andere nicht wissen, durch diesen sonderbaren Wirbel der Diktaturen und Demokratien, in den persönlichen Schicksalen, in diesen aufsteigenden und hinabstürzenden Wogen wissen wir – so glaube ich – sehr vieles über den Menschen, was andere nicht wissen können.“ [(2) In: Júlia Váradi: Interview mit István Szabó (Budapest 1994) für die Interviewsammlung „Beszélgetések Szabó István filmrendezövel“, S.14.]
In diesem Credo ist das thematische Motiv „Individuum und Geschichte“ (in Mitteleuropa) verbunden mit anderen thematischen Motiven wie dem von „nationaler Identität und Identitätsverlust“ – so in der Story von OBERST REDL (1984), die das Konfliktfeld von Herkunft (ethnisch: die ruthenische Bauernfamilie), Zugehörigkeit zum Judentum und der Homosexualität einerseits und andererseits der Beamtenrolle im Netzwerk der Mächtigen der k.u.k.- Monarchie auslotet. Diesem thematischen Motiv ist auch das jüdische Familienepos SUNSHINE (1999) verpflichtet, in dem vom Ende des 19. Jahrhunderts über den Faschismus, die Rákosi-Ära bis zu den Ereignissen von 1956 und die Folgezeit die Assimilation der ungarischen Juden als ein widerspruchsvolles und opferreiches Ringen um die nationale und persönliche Identität ausgebreitet wird.
In dem schlichten Alltagsfilm SÜSSE EMMA, TEURE BÖBE (1992) erzählt Szabó die Geschichte zweier junger Russischlehrerinnen, die mit dem Wegfall des Russischunterrichts an den ungarischen Schulen Anfang der neunziger Jahre eine Identitätskrise durchleben, indem sie arbeitslos werden, ihre soziale Existenzgrundlage verlieren. Szabó beobachtet sachlich, zeigt Ungeheuerliches in schlichten Alltagsvorgängen: Schüler, die die Russisch-Lehrbücher verbrennen, die Auseinandersetzungen im Lehrerzimmer der Schule über Lebensläufe, einen nächtlichen Überfall auf Emma, Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen, die sich als Aktfotomodelle anbieten. Böbe stürzt sich schließlich im Internat aus dem Fenster, weil sie keinen Ausweg mehr sieht und Emma steht als Zeitungsverkäuferin auf der Strasse.
Sowohl in VATER (1966), einem Höhepunkt in der Generationstrilogie der 60er Jahre (zur Trilogie zählen auch ALTER DER TRÄUMEREIEN (1964) und LIEBESFILM, (1970) als auch in MEPHISTO (1981), dem ersten Film der Trilogie der 80er Jahre, wie ebenso in TAKING SIDES – DER FALL FURTWÄNGLER(2001) ging Szabó einem Thema nach, das auch dem thematischen Motiv „Individuum und Geschichte“ folgt: die Frage nach den Grenzen individueller moralischer Autonomie unter den Bedingungen des politischen Drucks und der Repression.
In VATER erzählte der Autorenfilmer eine generationstypische Story aus dem Ungarn der Nachkriegszeit und der fünfziger Jahre. Jancsi, ein Junge, dessen Vater im Krieg Arzt war, malt sich in einer Ära der öffentlichen Glorifizierung und Mythenbildung um Widerstandskämpfer aus, dass und wie sein Vater als Widerstandskämpfer von den Pfeilkreuzlern verfolgt wurde, Verwundete rettete u.a. Er macht die Erfahrung, dass er mit diesen Phantasien Macht über Mitschüler und Erwachsene gewinnen kann und nutzt diese Macht aus. Erst allmählich gewinnt er ein wahres Bild des Vaters. In einem großen Schlussbild lässt Szabó den Jungen durch die Donau zum anderen Ufer schwimmen und mit ihm schwimmen viele, viele Jugendliche. Ein Generationsbild von der Befreiung falscher Vaterbilder, von der im sozialistischen Staat der Personenkultära mythologisierten Instanz des Über-Vaters, der seinerzeit letztlich Namen wie Stalin oder Rákosi trug.
In MEPHISTO entwirft Szabó das Psychogramm eines überragenden Schauspielers, der aus Eitelkeit und Ehrgeiz in opportunistischer Weise vom Provinztheater zum Staatstheater, vom talentierten Darsteller zum mächtigen Intendanten aufsteigen kann, weil er einen Teufelspakt mit dem faschistischen General und Ministerpräsidenten eingeht und seine Kunst in den Dienst des autoritären Regimes stellt. Ende der siebziger Jahre wurde eine dramatische Bearbeitung des Romans von Klaus Mann durch das Théatre du Soleil (Paris) unter der Leitung von Ariane Mnouchkine aufgeführt, die vor allem die alternativen Entwicklungen von Künstlern vor und nach 1933 in den Mittelpunkt rückte. In dieser Inszenierung wurde deshalb der Gegensatz zwischen dem Opportunisten Höfgen und dem Kommunisten Otto Ulrichs bestimmend für die Grundlinien der Handlung.
Im Spielfilm von Szabó liegt das dramatische Zentrum in der psychischen Konstellation des bedenkenlos nach Erfolg strebenden hoch talentierten Schauspielers, der deshalb sich für die Faschisten als nützlich erweist. Szabó entschied sich dafür, die Beziehungen zwischen Höfgen, dem Schauspieler und dem Ministerpräsidenten und General (Darsteller: Rolf Hoppe), der den Machtapparat des Faschismus verkörpert, in den Mittelpunkt zu rücken. Unter der Regie von Szabó gelang es Klaus Maria Brandauer, dem Darsteller des Höfgen, die Faszination dieser Schauspielerpersönlichkeit (die nach Klaus Mann dem deutschen Schauspieler Gustaf Gründgens, 1899-1963, ähneln sollte) für das Kinopublikum erlebbar zu machen. Mit dieser Darstellungsweise vermeidet Szabó eine politisch vereinfachende moralische Verurteilung: er führt einen großen Charakter und seine Katastrophe vor. Die Katastrophe eines Charakters, der seine moralische Autonomie selbst aufgibt und zum Verkörperer des Bösen wird, wie das der Ministerpräsident über Höfgens Mephistorolle im Film sagt.
Die Grenzen der moralischen Autonomie des Künstlers untersucht Szabó auch am Beispiel des genialen deutschen Dirigenten Wilhelm Furtwängler (1886-1954). Die Nazis instrumentalisierten seine Interpretationen „deutscher Titanenmusik“ von Wagner über Brahms und Bruckner bis Beethoven für ihre Herrschaft. Szabó konzipiert mit TAKING SIDES – DER FALL FURTWÄNGLER (2001) ein Kammerspiel in monumentaler Berliner Architektur. Er konzentriert die Handlung auf die Verhöre eines US-Major, eines Spezialisten für Versicherungsrecht. Die Forderung seiner Vorgesetzten lautet: „Wir glauben, dass er sich dem Teufel verkauft hat. Sie weisen nach, dass er schuldig ist.“Die Schuldanklage des US-Major wird getragen von Dokumentarfilmvorführungen, die immer wieder die Wochenschauaufnahmen von Bergen toter Menschenleiber in einem KZ zeigen. Mit dieser Begründung der durch nichts zu entkräftenden Verurteilung des faschistischen Systems ist der Vorwurf an Furtwängler gerichtet, dass er nicht 1933 emigrierte, dass er Hitler, Göbbels, Speer als Künstler diente. Im Unterschied zu Höfgen in MEPHISTO versucht Szabó hier die ernsthaften Begründungen und die Verteidigung Furtwänglers im Verhör zu sezieren.
Er vereinfacht die Konfrontationen, indem er den US-Major als amusisch, als Intellektuellenhasser und Furtwängler als die hilflose, ausschließlich auf die Verteidigung seines Grundsatzes von der Trennung von Politik und Musik festgelegte Künstlerpersönlichkeit agieren lässt. Furtwängler beruft sich auf sein Credo, durch Musik Freiheit, Humanität und Gerechtigkeit bewahren zu wollen. Der US-Major setzt Furtwänglers Antisemitismus, seine Feigheit in der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Herrschaft dagegen.
Die moralische Autonomie des Furtwängler lässt sich mit der ausschließlichen Berufung auf sein Künstlertum unter den Bedingungen der Nazi-Herrschaft nicht aufrecht erhalten – das ist Szabós Urteil, auch wenn die Entnazifizierungskommission später kein Auftrittsverbot über den Dirigenten Furtwängler verhängt hat – wie man am Schluss erfährt.
Zwischen Szabós Spielfilmen der sechziger und siebziger Jahre und den ab 1980 in Gang gekommenen internationalen Koproduktionen bestehen beträchtliche stilistische Unterschiede. Der Autorenfilmer war anfangs der dokumentaren Methode, wie sie im Béla-Balázs-Studio gepflegt wurde, verpflichtet.
In einem seiner ersten Kurzfilme TE/ DU (1961) hat er stilistisch seine Nähe zum französischen cinema verité und zur Nouvelle Vague demonstriert. Er zeigt das Schweben, die jugendliche Anmut einer Mädchenfrau, die durch Budapest eilt. Dieser Kurzfilm weist in einzelnen Straßenszenen eine innere Verwandtschaft mit Motiven aus Godards AUSSER ATEM (1959) auf.
In das ALTER DER TRÄUMEREIEN (1964) gibt Szabó Hinweise auf Truffaut. Die Trilogie der sechziger Jahre weist eine fortschreitende Besinnung auf eigene stilistische Lösungen auf. Dies trifft insbesondere auf VATER (1966) zu. Ein Film, in dem Szábó die Phantasien des Jungen ironisch mit Genreelementen des Abenteuerfilms und der Komödie unterläuft und damit auch Abstand von der dokumentaren Methode gewinnt.
Mit FEUERWEHRGASSE 25 (1973), einer Erzählung über die Einwohner eines Wohnhauses quer durch die Geschichte von im Krieg versteckten desertierten Soldaten und deportierten Juden, vollzog Szabó unter Einbeziehung einer raffinierten Farbdramaturgie den Sprung in surrealistische Erzähltechniken.
Wie ein nicht mehr zu überschreitender Endpunkt dieser stilistischen Entwicklung des Autorenfilmers mutet sein Versuch mit dem Genre der Parabel in BUDAPESTER MÄRCHEN (1977) an. In den europäischen Koproduktionen – beginnend mit MEPHISTO – vollzog Szabó die Abkehr von der dokumentaren Methode der Alltagsgeschichte und von Genrestilistiken, die für seine Position als Autorenfilmer in Ungarn kennzeichnend war.
Er musste den Übergang von einer staatlich subventionierten sozialistischen Studioorganisation zur am Weltmarkt orientierten kapitalistischen Filmwirtschaft mit neuen und massenwirksamen stilistischen Lösungen bewältigen – durch Anpassung und durch künstlerische Originalität. Jetzt zählte die Erzählung großer dramatischer Charaktere, der Konflikte, der Kollisionen und der das internationale Publikum erschütternden Katastrophen. Dazu bedurfte es der Stars und eines exzellenten internationalen Schauspielerensembles.
Die Bildsprache des Kameramannes Lajos Koltai brachte monumentale Kinobilder von Gesichtern und Architekturen. Man konkurrierte mit den internationalen Ausstattungsfilmstandards. Szabó wusste die Möglichkeiten von Literatur, Theater, Oper im großformatigen Farbfilm genial zu steigern. Seine Stilistik orientierte sich erfolgreich am internationalen Massenpublikum und nicht mehr am nationalen ungarischen Publikum.
Szabós Aufstieg zum Spielfilmregisseur von europäischem Rang vollzog sich endgültig mit den internationalen Koproduktionen. Im Anhang finden Sie die Filmografie und <hier> eine kleine Auswahl von Filmen mit kurzen Inhaltsangaben.
Lutz Haucke