(Teil 1) von Steven Pinker
In jedem Zeitalter erhöhen Tabu-Fragen unseren Blutdruck und drohen, moralische Panik auszulösen.
Wir dürfen jedoch keine Angst davor haben, sie zu beantworten.
Haben Frauen im Durchschnitt ein anderes Anlagenprofil und andere Emotionen als Männer?
Sind die Geschehnisse in der Bibel fiktiv -- nicht nur die Wunder, sondern auch diejenigen mit Königen und Königreichen?
Hat sich der Zustand der Umwelt innerhalb der letzten 50 Jahre verbessert?
Tragen die meisten Opfer von sexuellem Missbrauch keinen lebenslangen Schaden davon?
Haben amerikanische Ureinwohner Völkermord betrieben und die Landschaft ausgeplündert?
Haben Männer eine angeborene Neigung zur Vergewaltigung?
Ging die Kriminalitätsrate in den 1990ern zurück, weil arme Frauen zwei Jahrzehnte zuvor Kinder abtrieben, die zu gewalttätigem Verhalten geneigt hätten?
Sind Selbstmord-Attentäter gebildet, psychisch gesund und durch ihre Moral angetrieben?
Kämen Vergewaltigungen seltener vor, wenn Prostitution legalisiert würde?
Haben afro-amerikanische Männer im Durchschnitt höhere Testosteronwerte als weiße Männer?
Ist die Moral nur ein Produkt der Evolution unserer Gehirne, ohne eigenen Daseinsgrund?
Ginge es der Gesellschaft besser, würde man Heroin und Kokain legalisieren?
Ist Homosexualität das Symptom einer ansteckenden Krankheit?
Wäre es mit unseren moralischen Prinzipien vereinbar, Eltern die Möglichkeit zu geben, Neugeborene mit Geburtsfehlern einzuschläfern, denen andernfalls ein Leben voller Schmerzen und Invalidität bevorstünde?
Haben Eltern überhaupt einen Einfluss auf den Charakter oder die Intelligenz ihrer Kinder?
Haben Religionen einen größeren Anteil der Menschheit ermordet als der Nationalsozialismus?
Könnte man den Schaden, den der Terrorismus anrichtet, mindern, wenn man der Polizei unter bestimmten Umständen gestatten würde, Verdächtige zu foltern?
Hätte Afrika eine bessere Chance, der Armut zu entkommen, wenn es mehr umweltverschmutzende Industrie zuließe und den Atommüll Europas annehmen würde?
Nimmt die Durchschnittsintelligenz in westlichen Ländern ab, weil dümmere Menschen mehr Kinder haben als intelligentere Menschen?
Könnte man die Lage von ungewollten Kindern verbessern, wenn es einen Markt für Adoptionsrechte gäbe, in dem Babys an den Höchstbietenden gingen?
Könnten Leben gerettet werden, wenn wir einen freien Markt für Organe zur Verpflanzung errichten würden?
Sollten die Menschen das Recht haben, sich selbst zu klonen oder die genetischen Wesenszüge ihrer Kinder aufzubessern?
Vielleicht bemerken sie schon, wie Ihr Blutdruck steigt, wenn sie diese Fragen lesen. Vielleicht stößt sie es ab, dass Menschen so weit gehen können, über derartige Dinge nachzudenken. Vielleicht halten Sie weniger von mir, weil ich sie zur Diskussion stelle. Es handelt sich um gefährliche Ideen -- Ideen, die verurteilt werden, weder, weil sie offensichtlich falsch sind, noch, weil sie schädliche Handlungen befürworten, sondern, weil sie scheinbar die bestehende Moralordnung zersetzen.
Denken Sie darüber nach
Bei "gefährliche Ideen" denke ich nicht an schädliche Technologien, wie Massenvernichtungswaffen, oder an böse Ideologien, wie die von rassistischen, faschistischen oder anderen fanatischen Kulten. Ich denke vielmehr an faktische oder politische Standpunkte, die mit Beweisen und Argumenten von ernsthaften Wissenschaftlern und Denkern verteidigt werden, die jedoch so wahrgenommen werden, als würden sie die kollektive Anständigkeit einer Zeit herausfordern. Die oben genannten Ideen und die moralische Panik, die jede von ihnen während der letzten 25 Jahre auslöste, sind Beispiele. Autoren, die Ideen wie diese vorbrachten, wurden verteufelt, zensiert, gefeuert, bedroht und in einigen Fällen körperlich angegriffen.
Jede Ära hat ihre gefährlichen Ideen. Jahrtausendelang haben die monotheistischen Religionen unzählige Häresien verfolgt, zusammen mit Abartigkeiten der Wissenschaft wie Geozentrismus, biblische Archäologie und die Evolutionstheorie. Wir können dankbar sein, dass sich die Strafen von Folter und Verstümmelung in das Streichen von Zuschüssen und dem Schreiben von schmähenden Rezensionen gewandelt haben. Intellektuelle Einschüchterung, ob nun mit Schwert oder mit Feder, formt jedoch unausweichlich die Ideen, die während einer bestimmten Zeit ernst genommen werden und der Rückspiegel der Geschichte konfrontiert uns mit einer Warnung.
Immer und immer wieder haben Menschen faktische Behauptungen mit ethischen Schlussfolgerungen verbunden, die heute lächerlich erscheinen. Die Angst, dass die Struktur unseres Sonnensystems gravierende moralische Konsequenzen habe, ist ein klassisches Beispiel, und das Aufdrängen von "Intelligent Design" auf Biologieschüler ist ein aktuelles. Diese Travestien sollten uns zu der Frage führen, ob der heutige intellektuelle Mainstream ähnlichen moralischen Wahnvorstellungen unterliegen könnte. Werden wir von unseren eigenen Ungläubigen und Häretikern in Rage versetzt, welche die Geschichte eines Tages rechtfertigen könnte?
Beunruhigende Möglichkeiten
Gefährliche Ideen begegnen uns in zunehmendem Maße und wir sind schlecht gerüstet, uns mit ihnen auseinanderzusetzen. Wenn sie richtig durchgeführt wird, beschreibt die Wissenschaft (sowie andere wahrheitssuchende Einrichtungen, wie Geschichte und Journalismus) die Welt, wie sie ist, ohne Rücksicht darauf, wessen Gefühle verletzt werden. Vor allem die Wissenschaft war schon immer eine Quelle der Häresie und heute eröffnen uns galoppierende Fortschritte in empfindlichen Bereichen wie Genetik, Evolution und Umweltwissenschaften unausweichlich beunruhigende Möglichkeiten. Vielmehr ermöglicht es der Aufstieg der Globalisierung und des Internets Häretikern, miteinander Kontakt aufzunehmen und jenseits der Grenzen traditioneller Medien und akademischer Fachzeitschriften zu arbeiten. Ich vermute auch, dass eine Veränderung in den Empfindlichkeiten der Generationen den Vorgang beschleunigen wird. Der Begriff "Political Correctness" beschreibt die Vorstellung moralischer Rechtschaffenheit, die wir Baby-Boomer mit uns brachten, als wir Universitäten, Journalismus und Regierung übernahmen. Meiner Erfahrung nach sind die Studenten von heute – schwarze und weiße, männliche und weibliche – von dem Gedanken bestürzt, der zwischen ihren Eltern noch verbreitet ist, dass bestimmte wissenschaftliche Meinungen unmoralisch oder bestimmte Fragen zu heiß sind, um sie zu anzufassen.
Was macht eine Idee "gefährlich"? Ein Faktor ist eine denkbare Kette von Ereignissen, bei denen die Akzeptanz einer Idee zu einem Ergebnis führen könnte, das man als schädlich einstuft. In religiösen Gesellschaften gibt es die Befürchtung, dass, wenn die Menschen aufhören, an die wörtliche Wahrheit der Bibel zu glauben, sie auch aufhören, an die Autorität ihrer moralischen Gebote zu glauben. Das bedeutet: Wenn heute die Menschen den Teil ablehnen, in dem Gott die Erde in sechs Tagen erschafft, dann werden sie morgen den Teil mit dem "Du sollst nicht töten" ablehnen. In progressiven Kreisen besteht die Befürchtung, dass wenn die Menschen jemals irgendwelche Unterschiede zwischen Rassen, Geschlechtern oder Individuen anerkennen, sie dann auch Diskriminierung oder Unterdrückung für gerechtfertigt halten. Andere gefährliche Ideen führen zu Befürchtungen, dass die Menschen ihre Kinder ablehnen oder misshandeln würden, der Umwelt gleichgültig gegenüber stünden, menschliches Leben herabwürdigten, Gewalt akzeptierten und die Lösung gesellschaftlicher Probleme kindisch aufgäben, was mit genügend Hingebung und Optimismus nicht nötig wäre.
Alle diese Ausgänge wären, man braucht es kaum zu erwähnen, beklagenswert. Jedoch folgt keiner von ihnen wirklich aus der angeblich gefährlichen Idee. Selbst wenn sich herausstellte, dass sich, zum Beispiel, Gruppen von Menschen im Durchschnitt voneinander unterscheiden, wären die Gemeinsamkeiten sicherlich so groß, dass es irrational und unfair wäre, Individuen auf dieser Basis zu diskriminieren. Selbst wenn sich, ebenso, herausstellen würde, dass es nicht in der Macht der Eltern liegt, die Persönlichkeiten ihrer Kinder zu formen, wäre es einfach aufgrund menschlicher Würde falsch, seine Kinder zu misshandeln oder abzulehnen. Und falls sich populäre Ideen darüber, wie man die Umwelt verbessern kann, als ineffektiv herausstellten, würde dies nur die Notwendigkeit betonen, in Erfahrung zu bringen, was effektiv wäre.
Zur Wahrnehmung von Gefährlichkeit trägt noch ein weiterer Faktor bei, nämlich die intellektuellen Scheuklappen, die sich Menschen anlegen, wenn sie sich in Fraktionen aufspalten. Menschen haben die abstoßende Angewohnheit, sich in Vereinigungen zu sammeln und dabei bestimmte Glaubenssätze als Abzeichen zu tragen, womit sie ihre Hingabe zur jeweiligen Vereinigung bekennen, und rivalisierende Vereinigungen als intellektuell untüchtig und moralisch verdorben behandeln. Debatten zwischen den Mitgliedern der Vereinigungen können die Lage sogar noch verschlechtern, denn wenn die andere Seite den eigenen vernichtenden Argumenten nicht folgt, beweist das nur, dass sie immun gegenüber der Vernunft sind. Insofern ist es beunruhigend zu sehen, dass die beiden Einrichtungen, die eigentlich den größten Anteil an der Erkenntnis der Wahrheit haben sollten – Universitäten und die Regierung –, oft durch moralisch gefärbte Ideologien eine klare Sicht verlieren. Eine solche Ideologie lautet, dass Menschen unbeschriebene Blätter sind und dass gesellschaftliche Probleme nur durch Regierungsprogramme gelöst werden können, die besonders gut dazu geeignet sind, der Bösartigkeit europäischer Männer etwas entgegen zu setzen. Die Gegenideologie lautet, dass die Moral aus dem Patriotismus und dem christlichen Glauben entspringt und dass gesellschaftliche Probleme nur durch Regierungsprogramme behandelt werden können, welche die Sünden individueller Bösewichter bestrafen. Neue Ideen, nuancierte Ideen, ausgeglichene Ideen – und manchmal gefährliche Ideen – haben oft Probleme damit, sich entgegen dieser gruppengebundenen Überzeugungen Gehör zu verschaffen.
Die Überzeugung, dass ehrliche Meinungen gefährlich sein können, mag sogar einer Eigenart der menschlichen Natur entspringen. Philip Tetlock und Alan Fiske haben dargelegt, dass bestimmte menschliche Beziehungen auf einer Basis von unerschütterlichen Überzeugungen stehen. Wir lieben unsere Kinder und Eltern, sind treu gegenüber unseren Ehepartnern, halten zu unseren Freunden, tragen bei zu unseren Gemeinschaften und sind loyal gegenüber unseren Bündnispartnern, nicht deshalb, weil wir immerzu die Verdienste dieser Bindungen in Frage stellen und sie einschätzen, sondern, weil wir sie instinktiv spüren. Eine Person, die zu viel Zeit damit verbringt, darüber nachzudenken, ob Logik und Fakten wirklich die Hingabe zu einer dieser Beziehungen rechtfertigen, wird als jemand angesehen, der "es einfach nicht kapiert". Anständige Menschen wägen nicht bedächtig Vor- und Nachteile ab, wenn es darum geht, ihre Kinder zu verkaufen oder ihre Freunde oder Ehepartner oder ihre Kollegen oder ihr Land zu verraten. Sie lehnen diese Möglichkeiten im Vorhinein ab; sie "gehen nicht so weit". Also ergibt das Taboo, heilige Werte in Frage zu stellen, Sinn, wenn es um persönliche Beziehungen geht. Es ergibt jedoch viel weniger Sinn, wenn es darum geht, herauszufinden, wie die Welt funktioniert oder wie man ein Land regiert.
Übersetzung: Andreas Müller
Original: Steven Pinker: "In Defense of Dangerous Ideas". Sun-Times Chicago, Erstdruck: Edge. 15. Juli 2007
"In Defense of Dangerous Ideas" ist das Vorwort zum Buch What Is Your Dangerous Idea?
Teil 2 des Essays folgt nächste Woche
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