Evolution und Menschwerdung

HALLE (Saale). (hpd) Der Kopffüßer „Nautilus“ (38-80 Millionen Jahre alt) und die Fruchtbarkeitsskulptur „Venus von Willendorf“ aus der

jüngeren Altsteinzeit (ca. 27.000 Jahre alt) geben auf dem Titelbild die zeitliche und inhaltliche Spanne an, auf die sich die Beiträge in diesem von der „Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina“ soeben veröffentlichten Sammelband beziehen.

Scheinbar unberührt von der Kreativismus-Debatte (die zum Zeitpunkt der Akademietagung 2005 schon im Gange war) stellt dieses reich illustrierte und von Beiträgen führender Natur- und Kulturwissenschaftler geprägte Buch (Inhalt in der Anlage) dann aber doch einen dezidierten und eindeutig gegen jede Unwissenschaftlichkeit sprechenden Einwurf dar.

Den Texten ist jeweils ein Bild des Autors bei- sowie seine Erreichbarkeit angegeben und ein Abstract (in englisch und deutsch) voran- und eine Literaturliste nachgestellt. Der Publikation ist ein Sachwortregister beigegeben. Leider fehlen Kurzbiographien der Beiträger. Da aber berühmte Wissenschaftler als Autoren versammelt sind, meinte der Herausgeber sicher, darauf verzichten zu können.

„Religionen-TÜV“

Bevor auf die Publikation genauer eingegangen wird, sei gleich eingangs auf den erstaunlichsten Beitrag darin eingegangen. Der Autor David Sloan Wilson ist Kulturwissenschaftler und Evolutionsbiologe an der „Binghamton State University of New York“. Wilson ist bekennender Atheist. Als Evolutionsbiologie polemisiert er gegen den Kreationismus, vertritt aber ganz andere Thesen als Richard Dawkins und dessen Betonung der Gene. Als Kulturwissenschaftler nimmt er Religionen ernst, will sie verstehen und nicht gegen sie agitieren.

Wilson betrachtet Religionen mit Hilfe der Multilevel Selektionstheorie. Sein Beitrag in diesem Buch ist so etwas wie ein „Religionen-TÜV.“ Erfolgreiche Religionsgemeinschaften, so meint er, haben zuallererst einen säkularen Nutzen für die Anhängergruppe. Solange der Nutzen für den einzelnen seine Opfer überwiegt, die er oder sie bringt, besteht die Gemeinschaft stabil fort und kann sich erfolgreicher entwickeln als die Umgebung oder andere Religionen.

Im vorliegenden Beitrag werden Schlüsselthesen der Evolution von Religionen anhand einer Stichprobe von 35 Religionen aus einer 16bändigen Enzyklopädie der Weltreligionen untersucht. Die Mehrzahl der Religionen zeichnet, so Wilson, „weltliche Nützlichkeit“ (Durkheim) aus. Ihre formal auf das Jenseits gerichteten Elemente sind eigentlich Mechanismen, anpassende Verhaltensweisen zu motivieren und zu erklären.

„Das Verhalten von Menschen im Namen der Religion ist häufig von Eigennutz geprägt, wie im Falle der katholischen Praxis, die Anlaß zur Reformation der Protestanten war. Häufig werden derartige Praktiken jedoch als ’Verfälschung’ von Religion und nicht als Teil der ’wahren’ Religion betrachtet, die sich stärker am ’reinen’ Wohl der Gruppe orientiert. Die Bedeutung solcher Begriffe wie ’Ideale’, ’Verfälschung’, ’wahr’ und ’rein’ verlangt nach einer Analyse der kulturellen Evolution aus evolutionärer Perspektive als Teil des breiten theoretischen Hintergrundes für die Untersuchung von Religion mit dem Grundkonzept von Gruppen als adaptiven Einheiten. ...

DARWIN hat seine Theorie der Evolution äußerst erfolgreich auf der Grundlage von beschreibenden Informationen zu Pflanzen und Tieren aufgebaut, die von Naturwissenschaftlern seiner Zeit zusammengetragen wurden, von denen die meisten der Überzeugung waren, Gottes Werk zu studieren. Die traditionelle Religionsgelehrsamkeit bietet einen ähnlichen Informationskorpus über Religionsgruppen im Verhältnis zu ihrer jeweiligen Umwelt, das zur Prüfung von Evolutionshypothesen über Religion herangezogen werden kann.“ (S.234)

Neue Befunde zur Evolutionsforschung

Im Vorwort des Sammelbandes werden die neuen Erkenntnisse der Konferenz 2005 zusammengefasst in der sprachlichen Dichte und Kürze, die Naturwissenschaftlern eigen zu sein scheint:

„(1.) in der Kosmologie, die die Ausgangsbedingungen, die herrschten, bevor Leben in die Welt kam, jetzt besser definieren kann, (2.) in der Molekular- und Zellbiologie, durch die Einblicke in die physikochemischen Wechselwirkungen gewonnen werden konnten, die reproduktionsfähige Strukturen ermöglichen; (3.) in den molekularbiologischen Genomanalysen, durch die die evolutionären Gesetzmäßigkeiten analysierbar wurden, die die Ausdifferenzierung zu Pflanzen und Tieren bedingen; (4.) in der Entzifferung des menschlichen Genoms, die die Voraussetzung ist, die Herkunft und Funktion unseres eigenen Genoms zu bestimmen, und (5.) in den Neurowissenschaften, durch die die Hirnfunktionen besser verstanden werden können.

Der Band spannt daher den weiten Bogen vom Urknall und der Bildung der Planetensysteme über die Entstehung des Lebens, die molekulare Basis der biologischen Evolution, die Entwicklung von Prokaryoten und Eukaryoten, die Evolution und das Sterben der Saurier, die Analyse von Insektenstaaten bis hin zu Fragen der Menschwerdung und Formen der menschlichen Kultur.“ (S.7)

Was die vorliegende Dokumentation der Tagung vor allem auszeichnet ist die Selbstverständlichkeit, mit der Evolution als Naturvorgang (mit Entstehung der Lebewesen, die Menschen eingeschlossen) in Einheit gesehen wird mit Menschwerdung als Kulturvorgang, in den wiederum Religionen als weltliche Phänomene eingebunden sind. Auch werden bestimmte Kultursichten auf die Evolution korrigiert, so die des Irrtums von der „natürlichen Auslese“ über Jahrmillionen. Ian Tattersal meint vielmehr, dass die Menschwerdung eine „höchst seltene Innovation“ innerhalb der Evolution sei. Die geistigen Fähigkeiten der Menschen wären eher als zufällig Erworbenes zu interpretieren, denn als Kulmination eines Langzeitvorgangs.

Kulturelle Evolution

In diese Sicht passt – sozusagen als Überleitungsbeitrag zu Fragen der kulturellen Evolution – die These von James R. Hurford (S. 159ff), der mittels einer computergestützten Grammatikalisierungstheorie den Übergang von der Sprachfähigkeit zum Sprechen selbst beschreibt, die zu einem Sprachmosaik geführt habe, deren Gemeinsamkeiten moderne Techniken zu entschlüsseln begonnen haben. Allerdings sei die Analyse der Sprachevolution schwieriger als die der molekularen Biologie.

Da wo Sprache in Schriftform existiere, so Jan Assmann, sei die Kulturgeschichte leichter entzifferbar, zumal erst die Schrift dazu führte, dass Menschen Staaten, Ideen der Unsterblichkeit, kritisches Geschichtsbewusstsein und Monotheismen auszubilden vermochten. Das Schreiben erst ermögliche ein kulturelles Gedächtnis, das ja ebenso „künstlich“ sei wie der Austausch von Botschaften, die erst in der Schriftform verlässlich wurden im Vergleich mit der Kommunikation per menschlicher Stimme, sei sie nun sprechend oder singend.

Erst die Verschriftlichung von Religionen ermöglichte, das Heilige aus der Welt auszubürgern und in transzendente Formen zu gießen. In Kultreligionen existiere das Heilige innerweltlich in Naturerscheinungen oder Menschen. In Buchreligionen werde dies zum Götzendienst erklärt. Eine Auswahl des zeitlos Maßgeblichen und Hochverbindlichen werde aus der Fülle von Geschriebenem in einen Kanon gebracht, in dem es um eine „höhere Wahrheit“ gehe. Erst die „in einem ganz neuen Sinne schriftgestützten Religionen ziehen die Grenze zwischen wahrer und falscher Religion und konstruieren die Umwelt der anderen Religionen als ’Heidentum’, Unwahrheit, Unglauben und Irrtum ... Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden hat es immer gegeben, aber diese Grenze im Zeichen der Wahrheit ist etwas radikal Neues und ohne die Schrift und das auf ihr aufbauende Prinzip Kanon nicht denkbar. Erst die kanonisierte Schrift schafft die Bedingung dafür, daß eine Religion sich auf eine höhere, geoffenbarte Wahrheit berufen und alles andere zu sich in die Beziehung der Unwahrheit setzen kann. Offenbarungsreligionen sind Schrift- bzw. Buchreligionen.

Buchreligionen kehren das Verhältnis von Text und Ritus um. Beruhten in den Kultreligionen die ’konnektiven Strukturen’, die die identische Reproduktion der Kultur über die Generationenfolge hinweg sicherten, in allererster Linie auf dem Prinzip ritueller Wiederholung, so beruhen sie in den Buchreligionen auf dem Prinzip der Auslegung der kanonischen Texte.“ (S. 190).

Kulturelle Vererbung

Den Schluss des Bandes bildet die Wiedergabe der Podiumsbeiträge zur Frage, wie die Beeinflussung der Evolution durch Menschen heute gesehen werden kann. Das führt zu einigen Problemsichten, die nach der neueren Naturforschung wissenschaftlich und nach Peter Sloterdeijks „Regeln für den Menschenpark“ (1999) ethisch für erledigt schienen, nämlich die Fragen nach möglichen natürlichen Folgen kultureller Vererbung. Der Neurobiologe Randolf Menzel sprach auf dem Abschlusspodium von „epigenetischen Phänomenen“ (S. 275) und problematisierte den Ansatz von Richard Dawkins der „Meme“. In der Kultur werde nicht kopiert, sondern rekonstruiert. Ungezieltheit, wie in der biologischen Evolution, gäbe es in der Kultur nicht. Dennoch bleibe die Frage offen, „ob hier durch individuelle Erfahrung Erworbenes in die genetische Konstitution eingreift, d. h. ob es biologisch schnell evolvierende Gene gibt, die Träger solcher Kultureigenschaften sind. Epigenetische Phänomene könnten hier im Sinne einer Lamarckschen Komponente eine Rolle spielen.“ (S. 276).

Der Evolutionsbiologe Josef Reichholf holte in seiner diesbezüglichen Argumentation weiter aus und problematisierte seinerseits die Debatten über Gentechnologien, in denen er eine der Ursachen sieht für eine gewisse Renaissance der Religionen, die hier ethische Befürchtungen thematisieren. Er sah zwar keine Gefahr, dass „auf gentechnischem Wege die Evolution des Menschen nachhaltig beeinflusst werden könnte.“ (S. 277) Es sei aber nicht bestreitbar, und in den Folgen genauer zu erforschen, dass sich die Organismen in der Evolution immer weiter von der Umwelt emanzipiert hätten, und dass von Menschen verursachte Umweltveränderungen in die Artenvielfalt – und damit die Evolution – eingreifen und die Vielfalt biologischer Informationen dezimieren.

Ritualtheoretisches

Wenn am vorgestellten Werk aus der Sicht des Rezensenten Kritik zu üben ist, dann an der Selbstverständlichkeit, mit der Fragen ausgewichen wird, die sich auf die „zweite Natur“ des Menschen beziehen, auf seine sozialökonomischen Evolutionen, die zwischen Natur und Kulturen stehen. Das betrifft vor allem Fragen nach dem Anteil der Arbeit an der Menschwerdung (sicher von Friedrich Engels vereinfacht gedacht). Das führt – besonders deutlich im Einleitungsbeitrag des Historikers Hans-Joachim Gehrke – zum nahezu ausschließlichen Zitieren eher konservativer Kulturtheorien der Menschwerdung.

Unbedingt davon auszunehmen ist der Beitrag von Ute Frevert, der einzigen Autorin, über Ritualtheorien. Dies nicht in dem vereinfachenden Sinn, dass in ihm Nicht-Religionen überhaupt vorkommen (und sogar die Jugendweihe erwähnt und die Schrift von Isemeyer und Sühl von 1989 sogar herangezogen wird), sondern weil die Autorin einen ethnologisch-kulturwissenschaftlichen Überblick wagt, der sich von traditionellen religionswissenschaftlichen bzw. anthropologischen Blickwinkeln (und theologischen sowieso) abhebt. So ist sie in der Lage, auch evolutionstheoretisch neue Sichtweisen zu öffnen und diesbezüglich moderne Ritualtheorien zu befragen.

Frevert betont die Relevanz von Ritualen im Prozess der kulturellen und sozialen Evolution und deren Unersetzlichkeit bei der Bewältigung von Übergangssituationen. Sie unterstreicht deren gemeinschaftsbildende und stabilisierende Funktion. Die Entwicklung von Ritualen sei nicht nur Bestandteil religiös-kultischer Handlungen, die in modernen und hochdifferenzierten Gesellschaften sowieso ihren verbindenden und verbindlichen Charakter einbüßen. Rituale seien stärker als bisher als partialisierte Elemente sozialer Interaktionen zu sehen. Der Abschied von der religiösen Einbindung habe dazu geführt, dass Rituale in der Moderne selbstreflexiv geworden und offen sind für Kritik, Verwerfung und Neuentdeckung, vor allem auch dafür, alte abzuschaffen und neue zu erfinden. Man könne dies „Entzauberung des Rituals“ nennen. (S.226)

Wird der Beitrag von Frevert mit dem von Wilson gedanklich in Verbindung gebracht, ergeben sich neue Ideen, Religionen (und Rituale) auf die Evolutionstheorie zu beziehen und kulturgeschichtlich neu zu denken und auf Humanismus zu beziehen, auf dessen Rituale und die Frage, welchen „Mehrwert“ die daran hängenden Menschen haben, der ihre „Kosten“ besser deckt als Religionen. „Bessere“ Ideale, nach Wilson, sind doch nur „Phänomene eigener Art“, die keinen uneingeschränktem Erfolg garantieren.

 

Horst Groschopp

 

Harald zur Hausen (Hrsg.) Evolution und Menschwerdung. Vorträge anlässlich der Jahresversammlung vom 7. bis 9. Oktober 2005 zu Halle (Saale). Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 2007. 282 Seiten, 65 z.T. farbige Abbildungen, 3 Tabellen. (Nova Acta Leopoldina N.F., Bd. 93 Nr. 345) Euro 34,95. ISBN 978-3-8047-2370-2