„Ethik ohne Gott"

HAMBURG. Die Landesgemeinde der Deutschen Unitarier hatte am vergangenen Freitagabend eingeladen und der Vortragsraum war dicht gefüllt,

so dass noch ein weiterer Raum geöffnet werden musste: Dr. Paul Schulz referierte zum Thema „Ethik ohne Gott. Der autonome Mensch und sein Wertesystem". Ein Thema, das die säkularen Verbände intensiver beschäftigt als je zuvor und zu dem Paul Schulz kürzlich ein Buch veröffentlicht hat.

„Es ist auch aktuell ein aufregendes Thema, denn nachdem die neuen osteuropäischen Beitrittsstaaten der EU eine stärkere religiöse Orientierung mitgebracht haben, wird die Bundeskanzlerin vermutlich den Gottesbezug für die Präambel der EU-Verfassung wünschen. Dagegen werden sich die Staaten Kerneuropas allerdings wiederum vehement zur Wehr setzen - vor allem Frankreich. Auch die Europäischen Humanisten haben Frau Merkel - als EU-Ratspräsidentin - am vergangenen Dienstag eine „Brüsseler Erklärung" übergeben, in der sie bekunden, alles zu tun, um ein derartiges Vorhaben zu verhindern. Es wird vermutlich ein dramatischer geistesgeschichtlicher Kampf werden - wie er nur selten ausgefochten wurde."

Mit dieser Einleitung hatte der Referent umgehend den Kern seines Themas erreicht. In neun knappen Thesen, die er in ihrem Kontext erläuterte, spannte er dann seinen Argumentationsbogen für eine säkulare Ethik. Er begann mit:

1. Theokratie: Ethik mit Gott

Von Gott geht alle Macht aus. Aus ihr heraus ist auch alles Recht und jedes gültige Wertsystem ausschließlich von Gott gesetzt. Die Monarchie repräsentiert die göttliche Macht und den göttlichen Willen - von Gottes Gnaden. Das Volk hat sich König und Gott widerspruchslos unterzuordnen und zu gehorchen. Vom Codex - Hammurabi führt ein direkter Weg zu den „Zehn Geboten" der Bibel.

2. Demokratie: Ethik ohne Gott

Das säkulare Europa habe politisch seinen Anfang in der französischen Revolution, so Paul Schulz. Im „Contract social" von Rousseau seien die Prinzipien formuliert. Vom Volk geht alle Macht aus. Aus ihr heraus ist auch alle Rechtsprechung und das gültige Wertesystem als ausschließlich vom Menschen gegeben gesetzt. Alle Institutionen und jeder Einzelne im Volk ist an die Verfassung gebunden und zu ihrer Durchsetzung und Einhaltung verpflichtet.

3. Der prinzipielle Widerstreit zwischen theokratischem und demokratischem Prinzip

In der Gegenüberstellung wird deutlich: Das Theokratische und das Demokratische schließen sich vom Prinzip her gegenseitig aus. Sie stehen deshalb radikal konträr in einem unüberbrückbaren Gesetz zueinander. „Ohne Gott" heißt dabei Befreiung von Fremdbestimmung.

4. Die Lüge der christlichen Staatskirchen: Die Kirchen sind prinzipiell nicht demokratiefähig wegen ihres theokratischen Machtanspruchs. Darin liegt das Grundproblem der aktuellen Wertedebatte

Jede Form von Religion ist undemokratisch. Wir müssen beständig über die verleumderischen Geschichtsfälschungen der christlichen Kirchen aufklären: Die Demokratie ist gegen die christlichen Kirchen von säkularen Kräften erkämpft worden. Die Aufklärung ist gegen die christlichen Kirchen von säkularen Kräften erkämpft worden. Die Grund- und Menschenrechte sind gegen die christlichen Kirchen von säkularen Kräften erkämpft worden.

Der europäische Humanismus ist eine Urkraft des werdenden von der Kirche freien Europas: Von Petrarca und der Wiederentdeckung Ciceros und der „Humanitas", über die deutsche Klassik (Goethe bis Wilhelm von Humboldt), den Sozialisten - allen voran Karl Marx - und den französischen Existentialisten, in vorderster Front Paul Sartre und seinen Freunden weltweit. Erst aus der Erkenntnis des Existentialismus, der Relativität und des Nihilismus entsteht aus dem „Dennoch!" der radikale positive Humanismus eigener Entscheidung.

5. Der Souveränitätsanspruch der säkular-demokratischen Gesellschaft in einer pluralistischen Welt

Allein der säkulare Rechtsstaat ist letztverantwortliche Instanz für die Werte, die in unserer Gesellschaft Gültigkeit haben. In ihren Verfassungen hat die säkulare Gesellschaft Grund- und Menschenrechte formuliert und gesichert, die in keinem religiösen Text je so präzise formuliert worden sind.

Es gibt kein absolutes Wertesystem und nach der Französischen Menschenrechtserklärung (1791), der UNO-Menschenrechtserklärung von 1948 ist es vor allem die neue EU-Verfassung, von 2005 die in nie da gewesener Genauigkeit Menschenrechte definiert.

Paul Schulz betonte: „Lesen Sie diese Texte! Wir brauchen keinen Gottesbezug, wir brauchen nicht noch mehr Menschenrechte, wir brauchen ihre Umsetzung. Aber daran scheint ein großes Desinteresse zu bestehen. Alle, die sich so ignorant verhalten, sollten sich schämen!"

6. Der autonome Mensch in der säkular-demokratischen Gesellschaft: res publica - res privata

Den autonomen Menschen gibt es nur in der säkular-demokratischen Gesellschaft. Nur hier ist eine Befreiung des Individuums von religiöser Bindung möglich.

Paul Schulz definiert die geistige Autonomie bewusst nicht sozial oder politisch, sondern zielgerichtet philosophisch. Der Kernsatz lautet: „Durch die Loslösung von Gott als der höchsten religiösen Autorität setzt sich der Mensch frei von größtmöglicher Fremdbestimmung. In dem er sich herausnimmt aus jeder religiösen Bevormundung, entwickelt er sich zu einem sich selbst bestimmenden und verantwortenden Individuum. Er wird ein autonomer Mensch."

Daraus folgt die soziale und politische Positionsbestimmung des autonomen Menschen in zwei unterschiedlichen Handlungs- und Verantwortungsbereichen: den Bereich der res publica und den der res privata, d.h. unterschiedlichen Öffentlichkeitsbereichen. Das Verhalten des Menschen steht in den beiden Bereichen unter jeweils anderen Normen.

7. res publica: Staat und Ethik, Verfassung und Menschenrechte.

Als Staatsbürger eines demokratischen Rechtsstaates wie der Bundesrepublik Deutschland lebt der autonome Mensch ethisch überraschend einfach.

Die Bedingungen für sein Staatsbürgersein sind in den Grundlinien der Verfassung und dazu in Ausführungsverordnungen (ziemlich) eindeutig - für alle gleich - vorgegeben. Der Bürger ist verpflichtet, sich in allen Belangen der res publica danach zu richten. Punkt. Die Auffassung, man könne sich seinen eigenen Spielraum herausnehmen, ist kein staatsbürgerliches Verhalten. Die Veränderung der Verfassung ist immer ein langwieriger politischer Prozess und setzt immer eine starke gesellschaftspolitische Arbeit voraus.

Wer die Verfassung ändern will - was jeder Bürger prinzipiell darf - muss sich in einem multilateralen gesellschafts- und parlamentspolitischen Prozess engagieren, in Kooperation mit gesinnungsähnlichen Gruppierungen. Ansonsten ist ethisch der verändernde Spielraum des Einzelnen gegenüber der Verfassung und damit der öffentlichen Ordnung privat kein wirkliches Thema.

8. res privata: Das Ich und die Lebensqualität. Utilitaristische Humanität.

„Hier ist", so der Referent, „mein Blatt leer, d.h. es steht nichts darauf." Verhält sich der Mensch im Rahmen der Verfassung kann er sich in seinem Privatbereich so verhalten, wie er es möchte. Er kann moralisch leben wie es seinem Lustprinzip entspricht (unter der Voraussetzung, dass er das verfassungsmäßige Eigenrecht des anderen respektiert). Kein Mensch kann ihm bestimmte Moralregeln aufzwingen. Er kann auch völlig unsozial, egoistisch leben. Kein Mensch kann ihn privat zu sozialem Verhalten zwingen, er kann auch religiös glauben und tun, was er will. Kein Mensch hat das Recht, ihn davon mit Drohungen oder Gewalt abzuhalten.

Der Mensch ist privat Herr über sein Leben und seinen Tod. Der Mensch kann sich auch als ein positives soziales Wesen verstehen lernen und privat konstruktiv mit seinen Mitmenschen leben. Das Leben ist dabei voller Wagnisse, Risiken und Entdeckungen neuer Welten.

9. Der Kampf um Befreiung. Grenzen der Toleranz gegenüber der institutionalisierten Religion

In einem säkular-demokratischem Rechtsstaat ist Religion absolut Privatsache, weil unsere Demokratie ihre eigene Legitimation eben nicht aus Religion ableitet.

Unser säkularer Staat - wie alle westlichen Demokratien (und noch nie das Christentum als Machtinstitution) - garantiert das private Recht auf freie Religionsausübung.

So uneingeschränkt unser Staat für das Recht des Einzelnen auf Religionsfreiheit verpflichtet ist, so bedingungslos hat er die Einflussnahme institutionalisierter Religionen in allen politischen und gesellschaftlichen Bereichen im Staat zu untersagen.

 

Seinen Vortrag schloss Paul Schulz dann mit einer Abwandlung eines Zitats des klassisch-römischen Cato: „Ceterum censeo religionis potestatem esse delendam!" (Und im Übrigen meine ich, dass die Macht der Religion zerstört werden muss!)

CF