Essay

Zuchtmeister Staat: Zur semantischen Entgleisung im Sozialrecht

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Symbolbild
Symbolbild

Ein neuer Gesetzentwurf zu den Bürgergeld-Sanktionen soll am 10. Dezember das Kabinett passieren. Was darin steht, ist nicht bloß sozialpolitisch fragwürdig – es ist ein Angriff auf das Menschenbild des Grundgesetzes. Und möglicherweise mehr als das.

Ein Blick auf den Entwurf genügt, um zu erkennen: Hier geht es nicht um Verwaltung, sondern um Anthropologie. Die geplanten Regelungen – von Sanktionen bereits nach dem ersten verpassten Termin bis zur faktischen Pflicht zur persönlichen Vorsprache psychisch erkrankter Menschen – markieren eine semantische und strukturelle Verschiebung im Verhältnis zwischen Staat und Bürger. Was administrativ klingt, ist in Wahrheit eine Disziplinierungsagenda. Was als Fürsorge verkauft wird, ist ein Rückfall in obrigkeitsstaatliche Muster.

Regelungsstruktur: Zu viel Gesetz für zu wenig Anlass

Die Detailtiefe des Entwurfs ist bemerkenswert. Nicht nur werden Sanktionen kleinteilig gestaffelt – bis hin zu vollständigem Entzug von Regelsatz und Unterkunftskosten nach vier versäumten Terminen. Auch der Kooperationsplan, einst als dialogisches Instrument gedacht, soll wieder per Verwaltungsakt erzwungen werden können.

Auf diese Weise entzieht der Gesetzgeber der Verwaltung jede Möglichkeit zur Berücksichtigung von Einzelfallumständen. Das aber ist rechtsstaatlich geboten: In Bereichen, in denen Lebenslagen vielfältig und existenziell sind, muss Verwaltung Ermessen besitzen – nicht starr normierte Automatismen. Ein Gesetz, das das Verhalten der Hilfebedürftigen selbst zum Problem erklärt, statt den institutionellen Rahmen zu gestalten, verliert die Fähigkeit zur Verhältnismäßigkeit und zur Einzelfallgerechtigkeit.

So wie es zu wenig Anlass für eine gesetzliche Regelung geben kann, so kann es auch zu viel Gesetz für einen wahrgenommenen Anlass geben. Beides verletzt rechtsstaatliche Prinzipien.

Gesetzgebung ohne verfassungslegitimen Kompass: Zweck- und Zielentleerung

Der Gesetzgeber muss – das ist gefestigte Rechtsprechung – einen verfassungslegitimen Zweck – nicht nur irgendeinen – verfolgen und geeignete, erforderliche und angemessene Mittel wählen. Genau daran mangelt es hier eklatant.

Keiner der vorgesehenen Sanktionsmechanismen trägt nachweislich dazu bei, Menschen nachhaltig in Arbeit zu bringen. Studien zeigen seit Jahren: Sanktionen führen eher zu Rückzug, Verschlechterung psychischer Belastungen und zur Entfremdung vom Hilfesystem. Damit fehlt es bereits an der Geeignetheit der Mittel.

Noch gravierender ist das Fehlen einer Zielgerichtetheit. Das vorgelegte Sanktionsregime wirkt nicht wie ein Instrument der Förderung, sondern wie Disziplinierung um ihrer selbst willen.

Damit steht der Entwurf – juristisch betrachtet – zweck- und ziellos im Raum. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu 2022 unmissverständlich formuliert: "Das objektive Fehlen von Zwecksetzungen, die von Verfassungs wegen anzuerkennen sind, führt zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit." (BVerfG, Beschl. v. 29.9.2022 – 1 BvR 2380/21, 1 BvR 2449/21)

Ein Gesetz, das keinen legitimen Zweck erfüllt oder diesen nicht mit geeigneten Mitteln verfolgt, verletzt die Verhältnismäßigkeit – und damit den Kern rechtsstaatlicher Gesetzgebung.

Das Menschenbild: Zwischen Zuchtmeisterstaat und Paternalismus

Besonders entlarvend ist der Umgang mit psychisch erkrankten Menschen. Ihnen soll künftig zugemutet werden, persönlich beim Jobcenter zu erscheinen, um eine Sanktion zu verhindern – angeblich zur "Vereinfachung". Diese Regelung ist nicht nur praktisch absurd, sie ist auch ein Schlag ins Gesicht psychiatrischer Realität.

Wer psychisch krankheitsbedingt nicht in der Lage ist, einen Termin wahrzunehmen oder auch nur seine Post zu öffnen, wird kaum in der Lage sein, zur Anhörung zu erscheinen.

Das hier erkennbare Menschenbild widerspricht fundamental Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz. Die Menschenwürde garantiert nicht nur einen Mindestanspruch an materieller Existenz, sondern auch die Achtung der subjektiven Lebenslage – gerade der verletzlichen. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt betont: "Die Würde des Menschen ist verletzt, wenn er zum Objekt staatlichen Handelns gemacht wird." (st. Rspr., u.a. BVerfGE 115, 118)

Genau das geschieht hier: Menschen werden zu Disziplinierungsobjekten. Nicht Fürsorge, sondern Misstrauen wird zur Leitnorm.

Psychosoziale Realität vs. gesetzliche Fiktion

Besonders skandalös: Die Bundesregierung ignoriert eine sozialwissenschaftlich gut belegte Realität – nämlich, dass rund 40 Prozent der Anspruchsberechtigten die Grundsicherung gar nicht erst beantragen. Gründe sind Scham, Angst vor dem System, bürokratische Hürden und psychische Belastungen. Mit anderen Worten: Das Hilfesystem wirkt bereits jetzt in erheblichem Umfang abschreckend, nicht ermöglichend.

Wer vor diesem Hintergrund das Instrumentarium weiter verschärft, indem bereits ein erstes Versäumen zum Sanktionsmechanismus führt, muss sich fragen lassen: Geht es hier wirklich um "Teilnahme am Hilfesystem" – oder gar darum, Fallzahlen zu generieren, um Härte als notwendig zu konnotieren und dies politisch zu demonstrieren? Dass die Zahl der sogenannten Totalverweigerer zweistellig, also vernachlässigbar ist, das ist inzwischen bekannt – und fällt als Argument für eine umfassende gesetzliche Sanktionspraxis damit ebenso aus wie die Aussicht auf nennenswerte Einsparungen im Bundeshaushalt.

Das wäre politischer Symbolismus in Reinform – frei flottierend, ohne sozialpolitische Orientierung.

Die politische Verirrung: Schatten auf der freiheitlich-demokratischen Grundordnung

Wie kann sich verantwortliche Politik, dem Grundgesetz verpflichtet, auf solche Wege begeben? Einige Antworten liegen offen zutage:

Angstpolitik: Die SPD fürchtet, von Teilen ihrer werktätigen Klientel als "Partei der Arbeitslosen" geschmäht zu werden, wenn sie keine "Härte zeigt".

Partikularismus: Gesellschaftliche Gruppen vertreten zunehmend Einzelinteressen; Solidarität ist brüchig.

Sozialpsychologische Fragmentierung: Die Arbeitnehmerschaft versteht sich kaum noch als kollektive Gegenmacht – sie zerfällt in Einzelbiografien und Statusängste.

Symbolische Politik: Härte kommuniziert Führungsstärke – selbst wenn sie rechtsstaatlich und sozialpolitisch falsch ist.

Das ist eine Verirrung, die den Geist der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gefährdet. Denn das Sozialstaatsprinzip – Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz – ist kein Appendix, sondern substanzieller Teil dieser Ordnung.

Wer es aushöhlt, beschädigt mehr als einen Paragrafen: Er beschädigt das normative Fundament der Republik.

Darum geht es nicht nur um ein Sozialgesetz

Verhandelt wird hier nicht nur Sozialpolitik. Verhandelt wird die semantische Architektur des demokratischen Gemeinwesens.

Ein Gesetz, das Menschen in Armut mit Sanktionen bedroht, statt ihnen in Würde zu begegnen, ist nicht bloß hart – es ist Ausdruck eines Verlusts an rationaler Tiefe und ethischer Grundlegung.

Scheinrationalität ersetzt die Ethik der Verantwortung. Die Realität wird zur Verwaltungsfiktion. Und die Würde – sie selbst wird zur Sanktion.

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