Das Bundesverfassungsgericht, die Triage – und die Würde des Menschen

Wenn der Gesetzgeber das Unfassbare regeln will

op-saal.jpg

Das Bundesverfassungsgericht hat die umstrittene Triage-Regelung im Infektionsschutzgesetz verworfen (Beschluss vom 23. September 2025 - 1 BvR 2284/23, 1 BvR 2285/23). Viele Medien erklärten das Urteil mit der schlichten Formel: "Der Bund ist nicht zuständig." Doch das greift viel zu kurz.

Tatsächlich geht das Gericht viel weiter. Es sagt: Der Staat darf Ärzten in Extremsituationen nicht gesetzlich vorschreiben, nach welchen Kriterien sie Leben retten sollen. Denn das wäre ein Eingriff in die ärztliche Berufsausübungsfreiheit, die durch Artikel 12 Grundgesetz geschützt ist – und, tiefer noch, in das Prinzip, das den Kern des Grundgesetzes ausmacht: Die Würde des Menschen.

Die Versuchung, das Unfassbare zu ordnen

Die Idee einer "gesetzlichen Triage-Ordnung" entspringt einer zutiefst menschlichen Versuchung: dem Wunsch, Ordnung in das Chaos des Unvorstellbaren zu bringen. Wenn Ressourcen nicht für alle reichen, wenn Entscheidungen über Leben und Tod anstehen, dann will die Politik das Unbeherrschbare "regelbar" machen.

Doch genau hier liegt der Denkfehler. Triage ist keine verwaltbare Situation. Sie ist ein ethisches Dilemma, das sich nie vollständig durch Normen abbilden lässt. Jede Entscheidung, die Ärzte in einer solchen Lage treffen, ist ein Akt persönlicher Verantwortung – tragisch, unvollkommen, aber menschlich.

Ein Gesetz, das dieses Handeln in Paragrafen fasst, ersetzt Gewissen durch Gehorsam. Es verwandelt Verantwortung in Konfliktlagen und Haftungsangst – und den Patienten in einen normierten Bewertungsfall. Das Grundgesetz schützt aber nicht nur die Freiheit zu entscheiden, sondern auch die Last dieser Entscheidung – gerade dort, wo sie nicht delegierbar ist.

Das Ex-Post-Triageverbot – moralische Reinheit, tragische Konsequenz

Besonders deutlich zeigte sich dieses Missverständnis im politischen Streit um das sogenannte Ex-Post-Triageverbot: Darf ein bereits intensivmedizinisch behandelter Patient zugunsten eines anderen, dessen Überlebenschancen deutlich besser sind, von der Beatmung genommen werden? Zweifellos eine höchst emotionale Frage. Die moralische Empörung war groß: "Das dürfe niemals geschehen, jedes Leben sei gleich viel wert."

Doch diese Haltung verkennt die Wirklichkeit klinischer Entscheidungen und stellt einen Kategorienfehler dar. Denn Gleichwertigkeit des Lebens bedeutet nicht, dass alle medizinischen Maßnahmen unabhängig von Erfolgsaussicht gleich lange fortgeführt werden müssen. Sie bedeutet, dass jede Entscheidung begründet, verantwortet und ethisch reflektiert sein muss – und genau dieser menschliche Ermessensraum wäre durch ein gesetzliches Verbot zerstört worden.

Ein starres Ex-Post-Triageverbot hätte Ärztinnen und Ärzte in ein unlösbares Dilemma gezwungen: Wer niemandem die Behandlung entziehen darf, um jemand anderem das Leben zu retten, läuft Gefahr, dass am Ende zwei Menschen sterben – einer, weil er keine Behandlung bekam, und einer, weil er sie bekam, obwohl sie ihm nichts mehr nützte.

Das ist keine moralische Reinheit, sondern ein tragischer Selbstwiderspruch – geboren aus der Illusion, man könne ethische Konflikte durch Paragraphen neutralisieren. Glücklicherweise sind solche Fälle selten und werden niemals von einem Mediziner allein entschieden.

Der Mensch als Objekt des Gesetzes

Der Verweis auf die Gleichwertigkeit menschlichen Lebens hat viel eher Auswirkungen in umgekehrter Richtung. Schon in früheren Entscheidungen – vom Luftsicherheitsgesetz bis zum Urteil zur Suizidbeihilfe – hat das Bundesverfassungsgericht betont: Der Mensch darf niemals zum bloßen Objekt staatlichen Handelns gemacht werden.

Eine gesetzliche Triage-Ordnung hätte aber genau das bewirkt. Sie hätte dem Staat die Definitionsmacht darüber verliehen, welches Leben im Ernstfall mehr zählt, und sie hätte die Ärztinnen und Ärzte zu bloßen Vollstreckern dieser staatlichen Wertordnung gemacht.

Das Gericht hat diese Grenzüberschreitung erkannt – und sie gestoppt. Nicht, weil der Bund "nicht zuständig" wäre, sondern weil das Recht hier an seine Grenze stößt.

Die Freiheit der Entscheidung – und ihre Last

Jeder medizinische Praktiker weiß, dass es keine mechanischen Kriterien geben kann. Man entscheidet nach Wissen, Erfahrung, Intuition – und unter einem Druck, den kein Gesetz mildern kann. Was das Bundesverfassungsgericht schützt, ist genau dieser Raum der ärztlichen Verantwortung, der nicht rechtlich substituierbar ist.

Es ist der seltene Moment, in dem das höchste Gericht sagt: "Hier darf das Recht nicht weitergehen – weil es den Menschen sonst verliert."

Die Lehre aus Karlsruhe

Das Urteil ist eine Mahnung – nicht nur an die Politik, sondern an uns alle. Es erinnert daran, dass der Rechtsstaat dort endet, wo der Mensch zum Gegenstand staatlicher Berechnung wird.

Denn wenn wir beginnen, medizinische Entscheidungen gesetzlich zu normieren, dann bleibt es nicht bei der Triage. Dann werden irgendwann auch Behandlungen, Organverteilungen oder Medikamentenengpässe zu Gegenständen gesetzlicher Priorisierung – und der Mensch zu einer Variablen im System.

Das ist nicht Rechtsstaat, sondern ein Staat, der glaubt, durch Normierung moralische Reinheit zu erzeugen. Das Bundesverfassungsgericht hat – vielleicht ohne es ausdrücklich zu sagen – das Gegenteil verteidigt: den Gedanken, dass Würde nicht normierbar ist.

Unterstützen Sie uns bei Steady!