„Das Ich ist nur denkbar im Wir“

(hpd) Der Biologe und Journalist Werner Siefer geht auf die unterschiedlichsten neuen Forschungsergebnisse ein, welche sich gegen die Deutung des Menschen als von Egoismus und Selbstsucht geprägtem Wesen richten. Als Gegenposition dazu entsteht ein wissenschaftlich gestütztes Bild von einem auf Hilfsbereitschaft und Kooperation im Sinne allseitiger Fairness gründenden Homo sapiens.

Ist der Mensch von Natur aus egoistisch, gierig und unmoralisch? Diese grundsätzliche Frage stellt sich immer wieder bei aktuellen Anlässen wie Krisen oder Skandalen. Einer Bejahung widerspricht gleichwohl der Biologe und Journalist Werner Siefer: „In der Wissenschaft vollzieht sich eine Wende, die man nicht anders nennen kann als epochal. Immer mehr Befunde zeigen, dass der Mensch nicht etwa als Egoist entstand, sondern als Wesen, das extrem gut an das Leben in einer vielköpfigen Sippe angepasst ist. Sein Gehirn ist ein soziales Gehirn, das darauf angelegt ist, die Stimmungen und Gefühle anderer zu erfassen und sich darauf einzulassen. Sein Denkorgan ist nicht deswegen zu so ungewöhnlicher Größe herangewachsen, weil der Homos sapiens so intelligent wäre oder vernünftig ..., sondern um das komplexe Beziehungsgefüge innerhalb seiner Gruppe meistern zu können. Nicht das Ich ist also das, was den Menschen am besten beschreibt, sondern das Wir – und zwar in einem ganz fundamentalen Sinn ...“ (S. 16).

Diese Einschätzung will der ehemalige Redakteur im Ressort Forschung und Technik des Nachrichtenmagazins „Focus“ in seinem neuesten Buch „Wir und was uns zu Menschen macht“ belegen. Dabei nimmt er seine Leser mit auf eine Reise durch die Geschichte der Entdeckung des Wir in so unterschiedlichen Bereichen wie der Evolutionsgeschichte, der Genforschung, der Hirnforschung, der Primatenforschung, der Soziobiologie und der Verhaltensforschung. Zunächst referiert Siefer allerdings die gegenteiligen Positionen, wobei es etwa um Konrad Lorenz und Richard Dawkins mit ihrer Naturalisierung menschlichen Verhaltens geht. Gegenüber der Theorie des „egoistischen Gens“ führt Siefer etwa die Forschungen von Joan Roughgarden ins Feld, welche in Umkehrung von Dawkins’ Metapher von dem „geselligen Gen“ spricht. In dieser Perspektive stellt „Freundschaft einen eigenen Wert dar und ist keineswegs nur hohles Getue“. Demgegenüber gelte: „Die Rhetorik vom Konflikt dagegen ist eine Ideologie ohne wissenschaftliche Grundlage“ (S. 100f.).

Danach geht der Autor insbesondere auf die Forschungen ein, welche nach der Besonderheit des Menschen im Unterschied zu den Tieren fragen. Zwar betont er hier auch eine Reihe von grundlegenden Gemeinsamkeiten und kritisiert die „Humanisten“ mit ihrem menschen-fixierten Ansatz. Gleichwohl hebt Siefer als Besonderheit gerade das Ausmaß und die Formen von Empathie und Kooperation hervor. Nicht der aufrechte Gang und die sprachliche Kommunikation sei das Entscheidende für den modernen Menschen, sondern „die Bedeutung, die Emotionen für ihn haben“ (S. 133). Sie drückten sich auch in gegenseitiger Hilfe aus, was evolutionsgeschichtlich auch zur Herausbildung eines größeren Gehirnvolumens geführt habe: „Andere zu unterstützen erfordert entwickelte Verstandesleistungen, die kaum aus dem Nichts entstanden sein dürften, sondern einem über Millionen von Jahren anhaltenden Trend in der Entwicklung entspringen“ (S. 163). Erst in der sozialen Gemeinschaft habe der Mensch die ihn prägende kooperative Kognition erlernt. „Das Ich ist nur denkbar im Wir“ (S. 183).

Mit den Verweisen auf eine Fülle von Forschungsergebnissen aus den unterschiedlichsten Forschungsbereichen postuliert Siefer: „Der Mensch ist kooperativ und hilfsbereit, willens und biologisch bestens dafür ausgestattet, sich den Regeln einer Gemeinschaft zu unterwerfen“ (S. 270). Dass Letzteres auch bedenkliche Folgen haben kann, ignoriert er keineswegs, hätte aber noch stärker problematisiert werden können. Die überzeugende Zurückweisung eines Menschenbildes des „Egoismus“ sollte nicht zu einer unkritischen Verklärung eines Menschenbildes des „Gemeinsinnorientierten“ führen. Berücksichtigt man diesen Aspekt, so liefert Siefer eine beachtenswerte Kritik an den Deutungen des Menschen als egoistisches und selbstsüchtiges Wesen. Damit geht der Autor mit einer Reihe von neueren Forschungen und Publikationen konform. Was dies für die Gestaltung der Gesellschaft bedeutet, hätte man sich aber noch genauer erläutert gewünscht. Immerhin delegitimieren solche Einsichten eine bestimmte Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik.

Armin Pfahl-Traughber

Werner Siefer, Wir und was uns zu Menschen macht, Frankfurt/M. 2010 (Campus-Verlag), 289 S., 22 €