(hpd) Anlässlich der Erinnerung an die Pogrome in Deutschland am 9. /10. November 1938 wird eine Quelle des deutschen
Antisemitismus gerne vergessen: Das Christentum in Gestalt von Martin Luther.
In der öffentlichen Erinnerungskultur der Evangelischen Kirchen in Deutschland ist Luther auch aktuell ein untadeliges Vorbild.
Zwei Beispiele.
2007. Internationale Luther-Stiftung: „In Wittenberg wird am 10 November eine Internationale Martin-Luther-Stiftung gegründet. Im Mittelpunkt der der Stiftungsarbeit sollen Projekte stehen, die die Auseinandersetzung gesellschaftlicher Verantwortungsträger mit ethischen Werten fördern, sagte der designierte Vorstandsvorsitzende, Michael J. Inacker, am Freitag dem epd in Berlin."
Auseinandersetzung mit ethischen Werten und Luther?
2007. „Luther erfuhr die Botschaft des Evangeliums als eine befreiende Kraft. Durch sie löste sich seine religiöse Verzweiflung. Er konnte sich nun selbstvergessen anderen Menschen zuwenden und sich um sie kümmern, denn für ihn und sein Heil hatte ja Christus gesorgt, besser, als er es je selbst hätte tun können." So das Sonntagsblatt Bayern in einer aktuellen Würdigung Luthers zum Reformationstag (31.10.2007) und der Schilderung, wie er die "Frohe Botschaft" des Evangeliums erhalten habe.
Geht man jedoch in die Geschichte zurück, so stellt sich bald heraus, dass die „Frohe Botschaft" Luthers gegenüber über allen Nicht-Christen und insbesondere den Juden eine „Drohbotschaft" war.
Novemberpogrome
Hinsichtlich der Novemberpogrome vom 9. auf den 10. November 1938 (verharmlosend auch „Reichskristallnacht" genannt), die den Beginn der Morde des Holocaust markieren, ist es ein eigenartiges Zusammentreffen, dass es die Nacht des Geburtstages von Martin Luther war. In einer Darstellung der Novemberpogrome 1938 wird nachdrücklich auf die lange notwendige Vorbereitungszeit eines solchen „Reichspogroms" verwiesen und dass die Begründung, es sei die Empörung über das „Grynszpan-Attentat" in Paris - ein polnischer Jugendlichen schießt auf einen deutschen Legationssekretär, der am 9. November stirbt - nur als Vorwand angesehen wird.
Geht man etwas tiefer in diesen eigenartigen Zusammenhang zwischen dem Geburtstag Martin Luthers und den Pogromen von 1938, so zeigt sich ein möglicher innerer Zusammenhang zwischen den Nationalsozialisten und Luther.
Dieser Reformator hat „unserem Herren und der Christenheit zu Ehren" als Schluss einer 170seitigen Tirade zur Verteufelung der Juden eine Anleitung für die Judenverfolgung entwickelt. Eine Agenda der Unmenschlichkeit, die von den Nationalsozialisten gleichsam Punkt für Punkt „abgearbeitet" wurde.
Der Antisemitismus von Martin Luther
Martin Luther fragt: „Was sollen wir Christen nun mit diesem verworfenen, verdammten Volk der Juden tun? (...)" und gibt sieben Empfehlungen:
- „Erstlich, dass man ihre Synagoga oder Schule mit Feuer anstecke und, was nicht brennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, dass kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich. Und solches soll man tun, unserm Herrn und der Christenheit zu Ehren, damit Gott sehe, dass wir Christen seien und solch öffentlich Lügen, Fluchen und Lästern seines Sohnes und seiner Christen wissentlich nicht geduldet noch gewilliget haben.
- Zum andern, dass man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre. Denn sie treiben ebendasselbige drinnen, das sie in ihren Schulen treiben. Dafür mag man sie etwa unter ein Dach oder Stall tun, wie die Zigeuner, auf dass sie wissen, sie seien nicht Herrn in unserem Lande, wie sie rühmen, sondern im Elend und gefangen, wie sie ohn' Unterlass vor Gott über uns Zeter schreien und klagen.
- Zum dritten, dass man ihnen nehme alle ihre Betbüchlein und Talmudisten, darin solche Abgötterei, Lügen, Fluch und Lästerung gelehret wird.
- Zum vierten, dass man ihren Rabbinern bei Leib und Leben verbiete, hinfort zu lehren. (...)
- Zum fünften, dass man den Juden das Geleit und die Straße ganz und gar aufhebe. Denn sie haben nichts auf dem Lande zu schaffen, weil sie nicht Herren noch Amtleute noch Händler oder desgleichen sind, sie sollen daheim bleiben. (...)
- Zum sechsten, dass man ihnen den Wucher verbiete und nehme ihnen alle Barschaft und Kleinode an Silber und Gold, und lege es beiseit zu verwahren. Und dies ist die Ursache: Alles, was sie haben (...) haben sie uns gestohlen und geraubt durch ihren Wucher, weil sie sonst keine Nahrung haben. (...)
- Zum siebenten, dass man den jungen, starken Juden und Jüdinnen in die Hand gebe Flegel, Axt, Karst, Spaten, Rocken, Spindel, und lasse sie ihr Brot verdienen im Schweiß der Nasen, wie Adams Kindern aufgelegt ist. Denn es taugt nicht, dass sie uns verfluchte Gojim wollten lassen im Schweiß unseres Angesichts arbeiten, und sie, die heiligen Leute, wollten's hinter dem Ofen mit faulen Tagen, Feisten und Pompen verzehren und darauf rühmen lästerlich, dass sie der Christen Herren wären von unserm Schweiß, sondern man müsste ihnen das faule Schelmenbein aus dem Rücken vertreiben. ..." (1)
Größter Antisemit seiner Zeit
1938 schreibt der evangelische Landesbischof von Thüringen: „Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen. Vom deutschen Volk wird (...) die Macht der Juden auf wirtschaftlichem Gebiet im neuen Deutschland endgültig gebrochen und damit der gottgesegnete Kampf des Führers zu völligen Befreiung unseres Volkes gekrönt. In dieser Stunde muss die Stimme des Mannes gehört werden, der als der Deutschen Prophet im 16. Jahrhundert einst als Freund der Juden begann, der getrieben von seinem Gewissen, getrieben von den Erfahrungen und der Wirklichkeit, der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden." (2)
1941 erklärten sieben deutschchristliche Landeskirchenführer - und dem schloss sich die Deutsche Evangelische Kirchenkanzlei an: "Als Glieder der deutschen Volksgemeinschaft stehen die unterzeichneten deutschen Evangelischen Landeskirchen und Kirchenleiter in der Front dieses historischen Abwehrkampfes, der u.a. die Reichspolizeiordnung über die Kennzeichnung der Juden als der geborenen Welt- und Reichsfeinde notwendig gemacht hat, wie schon Dr. Martin Luther nach bitteren Erfahrungen die Forderung erhob, schärfste Maßnahmen gegen die Juden zu ergreifen und sie aus deutschen Landen auszuweisen." (3)
Martin Luther auf der Anklagebank?
1946. Vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Nürnberg verteidigt der ehemalige Gauleiter und Herausgeber der Hetzschrift „Der Stürmer", Julius Streicher, seinen Antisemitismus: „Dr. Martin Luther säße heute an meiner Stelle auf der Anklagebank, wenn sein Buch ‚Die Juden und ihre Lügen' in Betracht gezogen würde. Ihre Synagogen solle man niederbrennen, man solle sie vernichten... Genau das haben wir getan!"" Er wird wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt und hingerichtet.
2000. Anlässlich der 9. Synode der EKD (am 9. November 2000) hat die EKD zu den damaligen antisemitischen Ausschreitungen einen Beschluss gefasst, in der sie sich „zur Mitschuld der Kirche an der Judenverfolgung" bekennt. Es wurde beschlossen: „Unsere Gemeinden rufen wir auf, jeder Art von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit entgegenzutreten."
Offensichtlich ist damit nicht der ‚historische Antisemitismus' des Reformators und Namensgebers der evangelisch-lutherischen Kirche, Martin Luther, gemeint.
2003. Die Matthias-Film GmbH („Medien für den Unterricht"), Mitglied im Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik, hat auch den „Luther"-Kinofilm im Angebot - mit begleitenden Arbeitsmaterialen für den Schulgebrauch. In dem Infoblatt: Martin Luther und die Juden in dem das (geglättete) Streicher-Zitat von 1946 an den Beginn gestellt wird, heißt es dann anschließend: „Luther hat sich an den mittelalterlichen Vorwürfen, die Juden würden Brunnen vergiften, Hostien schänden und Kinder töten, nicht beteiligt. Ebenso wenig kann man ihm nachsagen, er habe - wie die Nazis - die Juden als gefährliches Volk oder als minderwertige Rasse gehasst."
Dann wird der Werdegang des Reformators dargestellt, der sich 1523 noch als Freund der Juden äußerte - als er noch hoffte, die Juden würden zum evangelischen Christentum konvertieren -, und der sich dann zum Hasser alles Nicht-Christlichen gewandelt habe.
„Scharfe Barmherzigkeit"
Je älter Luther wurde, desto mehr sei er überzeugt gewesen, „dass die Welttage sich dem Ende zuneigen, dass der universale Endkampf zwischen Christus und Satan begonnen hat. Er fürchtete, dass sich jetzt der Teufel mit dem Papst, den Türken, den Juden und allen Heuchlern (Ungläubigen) zusammentut, um das Offenbarwerden der Wahrheit der Reformation zu verhindern. Er sagt deshalb in der von Julius Streicher und seinesgleichen unentwegt zitierten Schrift „Von den Juden und ihren Lügen" (1543), die Juden seien verworfen und verdammt wie der Papst, die Türken (Muslime) und alle Glaubensfeinde. Um zu retten, was zu retten ist, bliebe den protestantischen Fürsten nur, sich in ‚scharfer Barmherzigkeit' gegen die vom Teufel Besessenen zu wehren."
Es verschließt sich zwar dem Leser, inwiefern Morden und Pogrome mit „scharfer Barmherzigkeit" gleich zu setzen sind – das mag ein Theologe verstehen –, aber im Text der Materialen für den Schulgebrauch wird Luther auch weiterhin in eigenartiger Form aus der Kritik herausgenommen.
Wer Luthers Antisemitismus zitiert, ist ein Nazi?
„In schrecklicher Verblendung rät Luther den protestantischen Fürsten, dort, wo es Not tue, der Juden Synagogen und Schulen anzuzünden, ihnen das freie Geleit aufzukündigen, den Zins („Wucher"), von dem sie leben würden, zu verbieten und sie außer Landes zu jagen.
Erst spätere Generationen haben Luther, besonders den alten Luther, zum Judenhasser stilisiert. Luthers Judenfeindschaft ist jedoch als Teil seiner apokalyptischen Geschichtsschau zu verstehen, die er mit anderen spätmittelalterlichen Theologen teilt. Es sind auch nicht die Juden als solche, denen er den Kampf angesagt hat, sondern die Juden als ,Gottesfeinde', die er mit anderen Glaubensgegnern gleichsetzt."
Schlussfolgerung dieser Sichtweise für den Unterrichtsgebrauch an Schulen: „Luther war kein Antisemit im modernen Sinne. Dennoch ist nicht zu bestreiten, dass seine antijüdischen Schriften zu den dunkelsten Kapiteln in seinem Werk zählen."
Das ist es, ein „dunkelstes Kapitel". Und „In schrecklicher Verblendung"? Im Gotteswahn?
Nun reicht es?
Zur Erinnerung: Am 25. Dezember 1941 hatte der fanatische Antisemit Julius Streicher geschrieben und veröffentlicht: "Wenn die Gefahr der Fortpflanzung dieses Fluches Gottes im jüdischen Blut endlich zu einem Ende kommen soll, dann gibt es nur einen Weg: die Ausrottung dieses Volkes, dessen Vater der Teufel ist." (Aus der Begründung des Schuldspruchs des Hauptkriegsverbrecherprozesses 1946 in Nürnberg.)
„Können Christen Judenfeinde sein?"
2006. Unter dem Titel "Antisemitismus - Wir haben was dagegen!" haben die EKD, die Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) und die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD) im Oktober 2006 einen Flyer herausgegeben, der sich insbesondere an junge Leute wendet. Vorurteile entstünden meist ohne Kenntnis der Personengruppe, auf die sich diese bezögen, heißt es in dem 12-seitigen Faltblatt. In dieser offiziellen Erklärung der evangelischen Kirchen in Deutschland steht zu der Frage: „Können Christen Judenfeinde sein? Wir stellen fest: Judenfeindschaft von Christen aus religiöser Überheblichkeit und Selbstüberschätzung gibt es seit vielen Jahrhunderten. Ausdruck christlicher Judenfeindschaft sind z. B. die beiden Statuen Ecclesia (Kirche) und Synagoga (Judentum). (...)
Blind und verstockt wird das Judentum dargestellt, triumphierend das Christentum. Solche Bilder und Vorstellungen haben sich in die Seele der Gläubigen eingegraben. Sie führten zu vielfältigen Vorurteilen und hasserfüllten Vorwürfen gegenüber dem Judentum: So wurde behauptet, die Juden seien Gottesmörder, sie hätten Brunnen vergiftet, Kinder rituell ermordet und Hostien geschändet.
Diese judenfeindlichen Vorwürfe hatten Pogrome zur Folge und führten zur Ausgrenzung jüdischer Mitbürger bis in die Neuzeit hinein. Sie trugen bei zu dem weltanschaulich und rassistisch begründetem Antisemitismus, der in den Massenmord an den Juden in der Zeit des Nationalsozialismus mündete."
Das ist alles.
Nur eine Zuweisung an den „weltanschaulich und rassistisch begründeten Antisemitismus", als gab und gäbe es keinen religiösen Antisemitismus? Und nun eine „Luther-Stiftung" für ethische Verantwortung? Eine evangelische Selbstdarstellung in Geschichtsvergessenheit? Sich selbst als ethische Instanz darstellen und die eigene Unmoral wortreich zerreden und vertuschen?
Carsten Frerk / Axel Verderber
Quellen:
(1) Martin Luther: Von den Juden und ihren Lügen. In: Borcherdt, H. H., Merz, Georg (Hg.): Martin Luther - Ausgewählte Werke. Ergänzungsreihe dritter Band: Schriften wider Juden und Türken. München, 1938. Chr. Kaiser Verlag. S. 61-228. Zitate S. 189-193.
Grundlage ist die 120-bändige so genannte "Weimarer Ausgabe - Kritische Gesamtausgabe der Werke Martin Luthers", deren Herausgabe 1883 im Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger in Weimar begann und die bis heute nicht abgeschlossen ist. Die fragliche Schrift befindet sich im 53. Band dieser Ausgabe auf den Seiten 417-552. Zur Zeit (2000-2007) gibt der Metzler-Verlag eine neue Ausgabe heraus.
(2) Der evangelisch-lutherische Landesbischof Martin Sasse aus Eisenach im Vorwort zu seiner Schrift "Martin Luther und die Juden - Weg mit ihnen!", Freiburg 1938
(3) Günter Brakelmann / Martin Rosowski (Hg.), Antisemitismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1989. Seite 108.