(hpd) Wolfgang Kersting plädiert für einen „dritten Weg“ zwischen Planwirtschaft und Wirtschaftsliberalismus. Auch wenn sein Plädoyer für ein am Prinzip der Chancengleichheit ausgerichtetes Verständnis von „sozialer Gerechtigkeit“ etwas altertümlich wirkt, bietet es eine beachtens- und reflexionswerte Position in einer emotionalisierten und polarisierten Debatte.
Was ist eigentlich „soziale Gerechtigkeit“? Die Bezeichnung taucht regelmäßig in politischen Debatten als Schlagwort auf, um die jeweils eigenen Positionen ethisch zu adeln. Dies gilt nicht nur für die Gewerkschaften, die in deren Namen eine andere Sozialpolitik einfordern. Auch Unternehmer nutzen derartige Argumentationsmuster, wobei es dann aber mehr um die Ansprüche der Leistungsträger gehen soll.
Die Instrumentalisierung und der Missbrauch im öffentlichen Diskurs sprechen aber nicht für den Verzicht auf die Nutzung des Terminus. Sie machen aber eine klare und trennscharfe Definition nötig. Einen Beitrag dazu will Wolfgang Kersting, emeritierter Professor für Philosophie an der Universität zu Kiel, in seinem Buch „Wie gerecht ist der Markt? Ethische Perspektiven der sozialen Marktwirtschaft“ leisten. Es verstehe sich, so der Autor, „als ein Gerechtigkeits-TÜV, es soll herausgefunden werden, ob diese Konzeptionen verkehrstüchtig oder verkehrsuntauglich sind." (S. 14).
Dabei argumentiert er aus der Position des „Neoliberalismus“ heraus, womit aber gerade nicht das Plädoyer für die absolute Freiheit des Marktes verbunden ist. Kersting definiert das Gemeinte anders, was angesichts einer gegenteiligen Begriffsverwendung im öffentlichen Diskurs etwas irritierend wirkt. Er erinnert an die Ansätze von Walter Eucken, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow, um in ihnen eine ordnungsökonomische Alternative sowohl zu Versorgungsmaximalismus wie zu Wirtschaftsliberalismus zu sehen. Der Autor plädiert demnach im Sinne eines „dritten Weges“ für eine soziale Marktwirtschaft, die auf Freiheitsmehrung und nicht auf Gleichheitsmehrung, auf Chancengleichheit und nicht auf Verteilungsgerechtigkeit setzt. Das Gemeinwesen könne nur in freiheitsförderlicher Harmonie gedeihen, „wenn in der ordnenden Gestaltung der Marktwirtschaft ein mittlerer Kurs gesteuert wird, der sich von den anarchischen Träumen eines selbstregulierenden Marktes und von der Hybris politischer Gesamtsteuerung gleich weit entfernt hält.“ (S. 16).
Kerstings Buch gliedert sich in zwei große Teile: Zunächst geht es um die Abgrenzung seiner Auffassung von sozialer Marktwirtschaft sowohl gegen den Sozialismus wie gegen den Wirtschaftsliberalismus. Dabei erinnert der Autor an die Ansätze der erwähnten Protagonisten des Ordoliberalismus, die eine ähnliche Kritik am freien Kapitalismus wie die Marxisten, aber mit ganz anderen wirtschaftspolitischen Konsequenzen formulierten. Kersting wendet sich in diesem Kontext aber auch gegen den aus seiner Sicht expandierenden Sozialstaat, der durch das „wohlfahrtsstaatliche Füllhorn benevolenter Transferzahlungen“ (S. 68) geprägt sei. Im zweiten Teil geht es dann ausführlicher um das gemeinte Verständnis von „sozialer Gerechtigkeit“, wäre der Begriff doch trotz allem politischen Missbrauch „kein Trugschluss“ (S. 207). Einer „rechtsstaatlichen Gesetzesherrschaft“ obliege sehr wohl die Aufgabe, die „Ermöglichungsbedingungen von Selbstbestimmung“ (S. 216) zu gewähren. Entscheidend sei die Chancengleichheit als offener Wettbewerb für Ämter und Positionen.
Kersting formuliert demnach ein Plädoyer für einen „freiheitsdienlichen, aktivierenden und befähigenden Sozialstaat“ (S. 235), der auf Ausbildungssystem, Beschäftigungspolitik und Grundversorgung setzt. Damit steht der Autor quer zu der polarisierten Debatte um die Frage der richtigen Auffassung von „Gerechtigkeit“. Gerade dies macht seine Ausführungen aber interessant, richten sie sich doch gegen die Denkblockaden in den Kontroversen. Kersting ist dabei durchaus klar, dass seine Forderung nach Chancengleichheit nicht alle kulturellen, natürlichen und sozialen Unterschiede einebnen kann. Als Philosoph bleibt er darüber hinaus einer eher abstrakten Perspektive verhaftet und deutet so nur in Ansätzen die politischen Konsequenzen für seine Positionen an. Insofern könnten sie sowohl in die eine wie in die andere Richtung politisch fehlinterpretiert werden. Gern wüsste man mehr über die gesellschaftlichen Konsequenzen einer Bejahung der „Chancengleichheit“, die in der Umsetzung erhebliche Eingriffe in die gesellschaftliche Entwicklung nach sich ziehen würde.
Armin Pfahl-Traughber
Wolfgang Kersting, Wie gerecht ist der Markt? Ethische Perspektiven der sozialen Marktwirtschaft, Hamburg 2012 (Murmann-Verlag), 280 S., 24,90 €