(hpd) Der US-amerikanische Philosoph Michael J. Sandel ist mit seinen Vorlesungen zur Gerechtigkeit mittlerweile über Fernsehen und Internet ein weltweit geschätzter Denker geworden. Jetzt liegen seine sehr praxisnah orientierten Erörterungen auch in Buchform vor, weniger denkerisch, sondern mehr didaktisch originell.
Der an der Harvard University lehrende Philosoph Michael J. Sandel gilt als der „derzeit wohl populärste Professor der Welt“ („Die Zeit“). Insbesondere sein Kurs über „Gerechtigkeit“ hat es nicht nur seinen Studierenden vor Ort angetan. Mittlerweile wird diese Veranstaltung sogar über das Internet übertragen und findet auch in anderen Ländern begeisterte Zuschauer.
Gleichwohl muss bereits an dieser Stelle gesagt werden: Sandel ist weniger ein bedeutsamer Denker denn Didaktiker der Philosophie. Seinen Kurs über „Gerechtigkeit“ zelebriert er wie ein Rock-Star: Sandel betritt die Bühne, redet frei ohne festes Manuskript, spricht konkrete Fallbeispiele an und fragt direkt ins Publikum hinein. Dabei entsteht ansatzweise so etwas wie der „sokratische Dialog“, der den meisten Philosophen der Gegenwart nicht mehr so genehm ist. Sie meinen nicht selten, sich mit abstrakter Fachsprache und elitärem Habitus vor den Niederungen der Alltagsprobleme zurückziehen zu können. Genau dies ist nicht das Anliegen von Sandel, der die Debatte über Gerechtigkeit zu einem intellektuellen Event macht.
Nachdem 2009 die US-amerikanische Originalausgabe von „Justice“ erschien, liegt 2013 auch eine deutsche Übersetzung mit dem Titel „Gerechtigkeit. Wie wir das Richtige tun“ vor. Der Untertitel findet sich bezeichnenderweise nicht in der englischsprachigen Erstausgabe. Sandel will denn auch gerade nicht sein Reflektieren über Gerechtigkeit und Moral im Sinne eines „Ratgeber“-Buchs hin zum „Richtigen“ verstanden wissen. Er nutzt vielmehr konkrete Fallbeispiele von der Frage über die Angemessenheit von starken Preisanstiegen für Dachdeckertätigkeiten nach Hurrikans bis zur Erörterung der positiven Diskriminierung durch die Bevorzugung von Angehörigen zuvor diskriminierter Minderheiten.
Drei Aspekte spielen dabei für Sandel eine herausragende Rolle: die Achtung vor der Freiheit, die Förderung der menschlichen Tugenden und die Mehrung des Gemeinwohls. Bei der Diskussion um Fragen der Gerechtigkeit geht es für Sandel denn auch um das Primat des Gerechten oder des Guten, der Freiheit oder der Tugend.
Sein Buch stellt Ansätze aus der bisherigen Philosophiegeschichte vor und erörtert sie anhand konkreter Fallbeispiele aus der Gegenwart. So geht es um Aristoteles, Kant und Rawls ebenso wie um die Libertarianer, Marktwirtschaftler und Utilitaristen. Gleichzeitig finden Fragen wie Gemeinwohlverständnis, Loyalitätskonflikte und positive Diskriminierung besondere Aufmerksamkeit.
Entsprechend beginnt das Kapitel über den Utilitarismus mit der Schilderung eines Ereignisses, wo Schiffbrüchige im 19. Jahrhundert nur Dank des Kannibalismus gegenüber einem Mitreisenden überleben konnten. Erst danach erläutert Sandel die Ansätze von Jeremy Bentham und John Stuart Mill, hinsichtlich deren Grundpositionen wie der Kritik daran abstrakt wie beispielhaft. Gerade dieser hohe „Praxisbezug“ der Darstellung zeichnet Sandels Buch aus. So macht der Autor deutlich, dass Philosophie keineswegs eine „staubtrockene“ Disziplin sein muss. Probleme der Gerechtigkeit können auch anhand des Gehalts eines Baseball-Spielers erörtert werden.
In der Gesamtschau steht das Buch demnach mehr für eine Einführung und einen Problemaufriss. Mitunter kommentiert der Autor die jeweils vorgestellten Ansätze, wobei nicht immer klar ist, ob er etwa die referierte Kritik auch selbst teilt. Relativ gut kommen bei ihm Kant und Rawls weg, wenngleich Sandel als kommuniarismus-nah aus dieser Perspektive einige kritische Anmerkungen anzubringen hat. Etwas bekenntnishaft und kursorisch sind seine Ausführungen am Ende bezogen auf eine neue Politik des Gemeinwohls geraten. Er fordert zugunsten einer gerechten Gesellschaft einen ausgeprägteren Gemeinsinn, beklagt die Ausdehnung des marktorientierten Denkens auf andere Lebensbereiche, problematisiert die Folgen einer steigenden sozialen Ungleichheit und plädiert für ein engagierteres und robusteres staatsbürgerliches Leben. Das ist durchaus nachvollziehbar, aber nicht neu. Als Einführung in die aktuellen Debatten über Gerechtigkeit und deren ideengeschichtlichen Hintergrund verdient Sandels Buch aber gleichwohl Aufmerksamkeit.
Armin Pfahl-Traughber
Michael J. Sandel, Gerechtigkeit. Wie wir das Richtige tun. Aus dem Amerikanischen von Helmut Reuter, Berlin 2013 (Ullstein-Verlag), 413 S., 21,99 €.