(hpd) Das Schlagwort „Multikulturalismus" stand vor einigen Jahren noch euphorisch für „Buntheit", mittlerweile bringt man es eher negativ
mit „Scheitern" in Verbindung
Der darauf bezogene öffentliche Diskurs wies aber früher ebenso wenig wie heute ein klares Verständnis des damit Gemeinten auf. Statt pauschaler Bejubelung oder Verdammung bedarf es einer klaren inhaltlichen Konzeption des „Multikulturalismus". Ein kritischer Blick auf die Debatte würde schnell zeigen, dass es unterschiedliche Auffassungen des damit Angesprochenen gibt und zunächst einmal ein besonderes Konzept theoretisch entwickelt werden müsste. Dazu will der Philosoph Heiner Bielefeldt, Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte, in seinem Buch „Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft. Plädoyer für einen aufgeklärten Multikulturalismus" einen Beitrag liefern. Hierbei geht es ihm zum einen um die schlichte Anerkennung der Realität von Multikulturalität, zum anderen um das normative Selbstverständnis einer liberalen Gesellschaft in der Multikulturalität.
Inhaltlich gliedert sich Bielefeldts Abhandlung in zwei große Teile: Zunächst geht es um den emanzipatorischen Gehalt und normativen Universalismus der Menschenrechte, die als interkulturell anschlussfähige Lerngeschichte präsentiert werden. Danach beschreibt der Autor die Grundzüge eines aufgeklärten Multikulturalismus im Spannungsfeld individueller Freiheit und kultureller Selbstbestimmung, wobei auch notwendige Grenzen multikultureller Toleranz Beachtung finden. Und schließlich wird die Notwendigkeit von religiös-weltanschaulicher Neutralität des säkularen Rechtsstaates als dessen normative Voraussetzung inhaltlich begründet. Diesen Ausführungen zu den allgemeinen menschenrechtlichen Grundlagen folgen dann Erörterungen zu exemplarischen Streitfragen, die sich auf das Verhältnis von Grundgesetz und Scharia, die Frage des islamischen Religionsunterrichts, das Kopftuch im Schuldienst, die Bekämpfung von Zwangsverheiratungen und die Einführung von Einbürgerungstests beziehen.
„Für das Konzept eines aufgeklärten Multikulturalismus", so Bielefeldts Grundposition, „bilden die Menschenrechte den Schlüssel. Dies gilt in einem komplexen Sinne: Zum einen verlangt der in den Menschenrechten formulierte Anspruch auf freie und gleichberechtigte Selbstbestimmung Respekt für eine Vielfalt kultureller Ausdrucks- und Lebensformen. Diese Vielfalt ist allerdings nicht als Selbstzweck zu achten; vielmehr geht es immer zuvörderst um die Freiheit und Gleichberechtigung der Menschen ... Zum anderen impliziert der Menschenrechtsansatz auch Grenzen dessen, was im Namen kultureller Vielfalt akzeptiert werden kann. Er schließt die Anerkennung autoritärer und diskriminierender Praktiken, selbst wenn diese im Namen von Religion oder Kultur propagiert werden sollten, kategorisch aus. ... Von den Menschenrechten lässt sich insofern ein Konzept von Multikulturalismus entwickeln, das das Gegenteil jener Beliebigkeit ist, die in der abwertenden Rede von ‚Multikulti' oft als Unterstellung mitschwingt" (S. 20).
Plädoyer für einen aufgeklärten Multikulturalismus
Dieses „Plädoyer für einen aufgeklärten Multikulturalismus" verdient allein schon deshalb Aufmerksamkeit, weil hier gegen die Ambivalenz und Vielschichtigkeit des Begriffs auf Basis einer realistischen Wahrnehmung der gesellschaftlichen Entwicklung für ein möglichst trennscharfes Verständnis plädiert wird. Dabei erinnert Bielefeldt an Selbstverständlichkeiten, die in der Debatte aber immer mehr verloren gehen: Multikulturalität ist eine soziale Realität; Pluralismus benötigt eine Minimalbasis; Gewährung von Toleranz schließt Grenzen von Toleranz ein; Gegenstand menschenrechtlicher Anerkennung ist die individuelle Selbstbestimmung und nicht die kulturelle Lebensform; religiöse Neutralität gehört zum säkularen Rechtsstaat; Muslime bilden bezüglich ihres Religionsverständnisses keine homogene Gruppe. Bereits die Anerkennung von damit zusammenhängenden Einsichten könnte einen bedeutenden Beitrag nicht nur zur konzeptionellen Gestaltung von Multikulturalität, sondern auch zum normativen Selbstverständnis der Gesellschaft liefern.
Bielefeldt muss demgegenüber aber vor gegenläufigen Tendenzen warnen: So sieht er etwa Erosionsgefahren für die Säkularität des Rechtsstaates durch starke Tendenzen, den Staat als Kulturstaat auf die vorrangige Pflege christlicher Traditionen zu verpflichten (vgl. S. 90). Bei manchen Positionen hätte man sich eine genauere Erörterung gewünscht, etwa wenn die unterschiedlichen Wege zur Selbstbestimmung (vgl. S. 69) angemahnt werden. In einer pluralistischen Gesellschaft lässt sich keine rigorose Anpassung einfordern, gleichwohl bedarf es dafür doch der nicht-kontroversen Minimal-Grundlage. Für die thematisierte Problematik des Islamunterrichts (vgl. S. 128) bietet sich das Modell eines neutralen Religionsunterrichts für alle Schüler an, was Bielefeldt leider nicht als Alternative erörtert. Und bei der Kopftuchfrage bleibt er mit dem Verweis auf die Einzelfallregelungen als Ausweg (vgl. S. 152) merkwürdig unentschlossen. Gleichwohl handelt es sich um ein beachtenswertes Buch mit einem reflexionswürdigen Plädoyer für einen aufgeklärten Multikulturalismus.
Armin Pfahl-Traughber
Heiner Bielefeldt: Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft. Plädoyer für einen aufgeklärten Multikulturalismus, Bielefeld 2007 (Transcript-Verlag), 213 S., 22,80 €