Weltanschauungsgemeinschaften

(hpd) Thomas Heinrichs hat hier im hpd das jüngst erschienene voluminöse Werk von Christine Mertesdorf, Mitarbeiterin an der Juristischen Fakultät der Universität Trier, vorgestellt.
Der Rezension ist nichts Grundsätzliches hinzuzufügen. An ihr ist nichts zu korrigieren. Einiges ist sogar zu bekräftigen durch Wiederholung. Der folgende Kommentar lässt das gleiche Buch als „Ratgeberliteratur“ unter verbändepolitischen und sehr praktischen Gesichtspunkten noch einmal Revue passieren.

Dabei geht es vor allem um organisatorische und politische Antworten auf die Frage, was daraus zu schließen ist, dass die Formel in Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung, dass den Religionsgesellschaften „die Vereinigungen gleichgestellt [werden], die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen“, ins Grundgesetz kam und heute Geltung hat.

Weltanschauung und Weltanschauungsgemeinschaft

Die Autorin gibt eine filigrane Begriffsgeschichte von „Weltanschauung“, nachdem sie zuerst einen historischen Überblick zur verfassungsrechtlichen Stellung der Weltanschauungsgemeinschaften vorgestellt hat, für deren Anerkennung als solche die Mitgliederzahl heute unerheblich ist (S.178), auch wenn Kirchenvertreter immer wieder anderes behaupten. Hier wie an andren Stellen werden entsprechende Urteile zitiert.
In ihrer Begriffsgeschichte „Weltanschauung“ geht die Autorin so vor, dass sie die vorhandenen Positionen ausführlich darstellt und dann kritisch ihre eigene Position entwickelt. Sie versteht unter Weltanschauung weniger eine Denkweise, eine philosophische Position, sondern klar eine auf Dauer angelegte Gemeinschaft, die einen weltanschaulichen Konsens lebt, der nach außen bezeugt wird (S.243). Die Abgrenzung zur Religion – Religion ist für sie wesentlich anderes als Weltanschauung (S.88) –, sieht die Autorin darin, dass die Welterklärung immanent und nicht transzendent sei (S.243).
Ihre Definition von Weltanschauung ist nun weniger interessant wegen ihrer eventuellen philosophischen Tiefe, als vielmehr wegen der möglichen Bedeutung im Rechtsverkehr derjenigen kollektiven Subjekte, die mit dem verliehenen oder juristisch erstrittenen Titel „Weltanschauungsgemeinschaft“ mit einem „Privilegienbündel“ (Mertesdorf) ausgestattet sind, das sie aus der Schar „normaler“ Kulturvereine verfassungsrechtlich heraushebt, eben weil sie mit Kirchen und nicht mit Gesangsbünden konkurrieren (siehe pdf Weltanschauung in der Anlage).
Eine Weltanschauungsgemeinschaft ist in diesem Sinne (S.243) „ein Zusammenschluss von Personen, der ein Minimum an organisatorischer Binnenstruktur aufweist, im Sinne der Gewähr der Ernsthaftigkeit auf Dauer angelegt ist und von einem sich nach außen manifestierenden gemeinsamen und umfassenden weltanschaulichen Konsens der Mitglieder getragen und dieser Konsens – soweit es um die Gemeinschaft als solche geht – nach außen bezeugt wird.“ – Letztlich läuft dies auf ein (z.B. humanistisches) Bekenntnis hinaus.
Das Buch lehrt, in welchem Umfang und welcher Konstruktion (S.197 u.a.) dabei wirtschaftliche Betätigung erlaubt wie geboten ist, um als „Weltanschauungsgemeinschaft“ Anerkennung finden zu können.

Wissenschaft und Weltanschauung

Im Abschnitt zur Definition von Weltanschauung breitet die Autorin auch Argumente aus, worin sich Wissenschaft und Weltanschauung unterscheiden. Sie kommt zu dem Schluss: Eine Erklärung des Weltganzen könne und wolle Wissenschaft nicht leisten. Weltanschauung gehe über Wissenschaft hinaus, weil sie „eine subjektiv verbindliche Handlungsanleitung im Rahmen einer Wahrheitsüberzeugung von einer ganzheitlichen Welt-, Lebens-, Sinn- und Werteorientierung“ biete (S.124f).

Kulturvereine und Weltanschauungsgemeinschaften

Der Leser/die Leserin bekommt eine wahrscheinlich vollständige Liste und Beschreibung aller Weltanschauungsgemeinschaften in Deutschland, von A wie „Anthroposophische Gesellschaft“ bis Z wie „Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung“. Bei H findet sich auch (detailliert) der „Humanistische Verband“ (S.245-356).
Zu diesen Verbänden rechnen auch solche mit nichtreligiösen Weltanschauungen (ein Begriff, den die Autorin ablehnt, wegen des ihrer Meinung nach per Definition „Weltanschauung“ sowieso schon gegebenen Unterschiedes zu Religion, S.110).
Die Autorin beurteilt diese Gemeinschaften, die sie von weltanschaulichen Vereinen deutlich trennt (S.187).
Die untersuchten Gruppen reichen hin bis zur Europäischen Arbeiterpartei. Sie erfassen die FKK-Bewegung und den Marxismus als Theorie sowie die Deutschgläubigen und die Heilsarmee ... Alle werden einer Wertung unterzogen und beurteilt, ob sie Weltanschauungsorganisationen sind oder sein könnten: Bei der „Humanistischen Union“ (S.362) und „Jugendweihe e.V.“ (S.367) wird das verneint, wie diese selbst es auch sehen, wie aber oft in der relevanten Literatur gegenteilig behauptet wird.
„Universelles Leben“ hat keinen Weltanschauungscharakter, aber der „Bund für Geistesfreiheit“; Humanisten ja, aber Atheisten nein, denn diese hätten keine Weltanschauung (S.282), weshalb auch der IBKA nicht näher vorgestellt, aber erwähnt und Klärungsbedarf angemeldet wird (ebd.).
Die Autorin erschreckt mit ihrem Tableau akribisch erfasster Organisationen sicher einige Leser und Leserinnen und es stellt sich bei manchen vielleicht nach der Lektüre ein Sehnsuchtsgedanke ein nach der Geordnetheit früherer überschaubarer Zustände.

Gleichbehandlung

Die Position der Autorin ist klar: Sie tritt für eine völlige Gleichstellung der Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften ein. Etwas anderes kann nach ihrer Analyse aus dem Grundgesetz auch nicht geschlossen werden. Sie geht aber nicht auf die Frage ein, warum die „Gleichbehandlung“ ebenso „hinkt“ wie die Trennung von Staat und Kirche. Aufgrund der sozialen Entwicklung, so die Autorin, ist eine „Öffnung der wörtlich auf Kirchen und Religionsgemeinschaften bzw. religiöse Momente beschränkten Gewährleistungen auch für Weltanschauungsgemeinschaften und weltanschauliche Momente“ erforderlich (S.499).
Was das Buch zeigt ist, wer – nach jeweils begründeter Ansicht der Autorin – Aussicht hat rangelassen werden an die staatlichen Fördertöpfe. Dabei drängt sich die Frage förmlich auf, wie und worin die Gleichbehandlung denn enden soll, wenn alle an den Kuchen wollen und Rechte haben, Stücke davon zu bekommen.
Insofern hat es auch eine politische Bedeutung, dass der Band in der Reihe „Schriften zum Staatskirchenrecht“ erschien, herausgegeben u.a. von Axel Freiherr von Campenhausen, der immerhin von 1970 bis 2008 das „Kirchenrechtliche Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland“ leitete.
Das Staatskirchenrecht selbst ist von diesem Vorgang der Zunahme von Konfessionsfreiheit und Weltanschauungsorganisation ziemlich tangiert, weil es sich zwangsläufig ausweitet, wenn es zunehmend immer mehr Religionen und Weltanschauungen im Grundsatz betrifft. Die Situation ist unübersichtlich und die Wege zu einer Reform der Religionsverfassung sind noch nicht angelegt.

Praktischer Humanismus und Recht

In der Erörterung der rechtlichen Verhältnisse von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, insbesondere der Frage ihrer Gleichheit in Stellung und Rechten (und Pflichten) im Grundgesetz und den einzelnen Länderverfassungen, kommt die Autorin zu logischen rechtspolitischen Folgerungen, z.B. zum Recht auf Erteilung eines weltanschaulichen Unterrichts (S.521) oder zum gleichen Recht hinsichtlich der Anstaltsseelsorge usw. (S.552).
Der praktische Wert der Publikation besteht hier darin, dass alle [!] deutschen Länderverfassung dahingehend gründlich untersucht und vorgestellt werden, welche Chancen sie bieten für Weltanschauungsvereine, besonders betreffend Weltanschauungsunterricht, Weltanschauungsschulen, Staatsleistungen, Wohlfahrtspflege ...
Das Buch ist nicht nur nützlich als Nachschlagewerk hinsichtlich der Organisationen und der Rechtsliteratur. Es hat Gewicht in den aktuellen rechtspolitischen Debatten, bezogen auf Weltanschauungen und Religionen.

Horst Groschopp