Evolutionstheorie: Entstehung, Konsequenzen

STUTTGART. (hpd) "Werden und Vergehen - zum 200. Geburtstag von Charles Darwin": So heißt das Schwerpunkt-Thema der Januar-Ausgabe von der Zeitschrift UNIVERSITAS. Vier Essays beleuchten auf insgesamt 66 Seiten die Entstehung und Bedeutung der Evolutionstheorie sowie ihre Konsequenzen für das Weltbild - und zwar viel tiefgründiger und detaillierter als die Jubiläumsartikel zum Darwin-Jahr in diversen anderen Zeitschriften.

 

Besonders wer sich für die historischen Hintergründe und die philosophischen Aspekte der Evolutionstheorie interessiert, hat von diesem Band großen Gewinn. Denn der Untertitel der renommierten Zeitschrift, "Orientierung in der Wissenswelt", ist keine Leerformel.

Für die Theologie bedeutet die Evolutionstheorie "nichts anders als ein Generalangriff", spitzt es der Herausgeber Dirk Katzschmann in seinem Editorial zu. "Übernatürliche Erklärungen und die Existenz eines Schöpfergottes sind mit ihr nicht in Einklang zu bringen - daran ändern auch die Versuche, den grundsätzlichen Widerspruch zwischen Religion und Evolutionstheorie durch Kreationismus und Intelligent Design wieder aufzuheben, nichts. Letztere sind ausschließlich weltanschaulich motiviert und entbehren jeder wissenschaftlichen Stichhaltigkeit."

Metaphysik mit anderen Mitteln

Ebenfalls betont hat dies in seinem Essay Rüdiger Vaas: "Die Evolutionstheorie bedeutet also nicht nur eine Revolution in der Biologie, sondern auch für unser Welt- und Menschenbild", schreibt der Biologe und Philosoph, der mit dem Religionswissenschaftler Michael Blume jüngst das Buch "Gott, Gene und Gehirn" im Hirzel-Verlag (2009) publizierte, in dem ausführlich untersucht wird, welche biologischen Grundlagen Religiosität hat und ob sie womöglich sogar - als nützliche Illusion? - einen Selektionsvorteil besitzt (Rezension hier). "Naturtheologische Erklärungsversuche der Angepasstheit des Lebens wurden obsolet. Damit verlor der bis dahin populäre teleologische Gottesbeweis seine wesentliche Stütze. Das Postulat von der Existenz eines Schöpfergottes geriet einmal mehr unter Beschuss. Entsprechend stark waren - und sind teilweise noch - die weltanschaulichen, überwiegend religiös motivierten Widerstände. Aus naturwissenschaftlicher Sicht erübrigt sich allerdings längst jede Diskussion von Kreationismus und 'Intelligent Design'. Denn dahinter steckt lediglich Ideologie oder Pseudowissenschaft, keine wissenschaftliche Alternative zur Evolutionsbiologie - auch wenn dies unter anderem aus politischen Gründen immer wieder zu suggerieren versucht wird. Kreationistische Auffassungen genügen den Mindeststandards wissenschaftlicher Theoriebildung und empirischer Untersuchungen nicht."

"Die Evolution der Evolution", genauer: ihrer Entdeckung und Erklärung, zeichnet Vaas in seinem 25-seitigen Beitrag nach: Von den antiken Urzeugung-Theorien bis zu dem kühnen Gedanken von Immanuel Kant, der schon 1790 darüber spekulierte, dass "eine Gattung aus der andern, und alle aus einer einzigen Originalgattung" entstanden oder die Gattungen aus einem "einzigen erzeugenden Mutterschoße" entsprangen sein konnten, doch davor zurückschreckte, weil er glaubte, dass dies Schlussfolgerungen führen würden, die "so ungeheuer sind, dass die Vernunft vor ihnen zurückbebt". Die multidisziplinäre Voraussetzungen für Darwins Evolutionstheorie werden dann ebenso beschrieben wie der Inhalt von Darwins fünf Theorien und die Entwicklung des Darwinismus sowie die große Synthese und die aktuellen Forschungsfragen. Schließlich wird skizziert, wie die Evolutionstheorie auch eine Art Metaphysik mit anderen Mitteln ist und warum ohne sie die Wissenschaft vom Leben bloß ein eklektisches Briefmarkenalbum wäre und keinen inneren Zusammenhang hätte.

Ein Labor der Evolution

Eine Mischung aus historischem Rückblick und aktueller Vergegenwärtigung hat Jürgen Neffe geschrieben. Der Wissenschaftsjournalist besuchte Galápagos auf Darwins Spuren und fragte sich: "Was gibt es hier, das dem Mythos gerecht wird? Was lockt Scharen von Pauschalreisenden an, die 'Darwins Inseln' buchen? Wie wichtig war ihm selbst der Archipel? Und: Hätte er seine Theorie entwickeln können, wenn er nie an diesem Ort gewesen wäre?"

Neffe zeichnet nach, wie Darwins zoologische Studien auf den Galápagos-Inseln für ihn "die Stabilität der Arten untergraben" haben und einer der entscheidenden Anstöße für die Entwicklung seiner Evolutionstheorie war. Er erläutert aber auch, auf welche Weise der Massentourismus und dessen Folgen dieses "Labor der Evolution" nun bedrohen. Und er beschreibt, wie ganz andere Inseln die Evolutionstheorie unabhängig motiviert haben, nämlich in Form der Erkenntnisse von Alfred Wallace, der in Südostasien ebenfalls den Artenwandel und die natürliche Selektion entdeckte.

Der Beginn einer neuen Ära

Einen sehr originellen Ansatz, um die Tragweite von Darwins Erkenntnissen zu veranschaulichen, hat Franz M. Wuketits gewählt. Der Philosoph und Zoologe kontrastiert in seinen "Retrospektiven einer Annäherung" die beiden Naturforscher Alexander von Humboldt und Charles Darwin. "Ein historischer Zufall wollte es, dass in dieses Jahr der 240. Geburts- und 15. Todestag des einen und der 200. Geburtstag des anderen fällt. Und mehr noch: Im Todesjahr Humboldts erschien Darwins epochales Werk, das 'Artenbuch', mit dem er dem Evolutionsdenken zum entscheidenden Durchbruch verhalf. Damit ging Humboldts Ära ideengeschichtlich zu Ende."

Für Darwin war Humboldt ein Vorbild, hatte jener doch ebenfalls, ab 1799, Südamerika bereist und ausführlich darüber berichtet. Abgesehen von ihrer finanziellen Unabhängigkeit war das Leben der beiden Entdeckungsreisenden, die sich später auch einmal persönlich trafen, sehr verschieden. Ebenso ihre Sicht der Welt. Aber beide strebten danach, die Einheit in der Vielfalt zu erkennen und verbanden eine Fülle von Einzelerkenntnissen in einer großen Synthese. Humboldt beschwörte jedoch die Harmonie und die "heilige Naturkraft inneren Wirkens", wie es Goethe formulierte. Darwins düstere Theorie der natürlichen Selektion dagegen idealisierte und verklärte die Natur nicht länger, sondern konnte sie erklären. Gleichwohl war Darwin, wie Humboldt, ein großer Humanist, der an die moralische Verbesserungsfähigkeit des Menschen glaubte. Wuketits hat es glänzend verstanden, Darwins Erkenntnis vor dem Hintergrund des Humboldtschen "Kosmos" schärfer sichtbar zu machen und zugleich in einen größeren geistesgeschichtlichen Horizont zu stellen.

Die Selbstorganisation der Natur

Die enorme Bedeutung von Darwins Evolutionstheorie nicht nur in wissenschaftshistorischer, sondern auch -theoretischer Hinsicht beleuchtet Bernulf Kanitscheider. Der Philosoph charakterisiert treffend "Darwins Theorie als Prototyp und Vorläufer einer Theorie der Selbstorganisation": als eine Theorie über die spontane Entstehung komplexer Ordnung. Nicht Planung (transzendente Ziele, Absichten, Design), sondern die im thermodynamischen Nichtgleichgewicht inhärenten physikalischen Prozesse verursachen die erstaunlichen Musterbildungen der Natur und genügen für deren Erklärung.

In einer konzisen Analyse und mit glänzend ausgewählten Zitaten spürt Kanitscheider der konzeptuellen Revolution der Selbstorganisationstheorien nach, die er bis zu den griechischen Atomisten und ihren Überlegungen zur Verschränkung von Zufall und Notwendigkeit zurückverfolgt. Aber erst vor einigen Jahrzehnten wurde deutlich, wie man die Vielfalt und den erstaunlichen Organisationsgrad der Natur physikalisch erfassen kann - und die biologische Evolution ist nur ein Beispiel dafür.

Aufklärung und Kritik

Einmal mehr gelang es der Zeitschrift UNIVERSITAS, ein komplexes Thema allgemeinverständlich und zugleich auf hohem Niveau sowie mit expliziten Bezügen zum kulturhistorischen Hintergrund und den philosophischen Implikationen darzustellen. In einer immer marktschreierisch werdenden Medienlandschaft ist dies eine erfreuliche Ausnahme. Und es dürfte kein Zufall sein, dass mit Bernulf Kanitscheider, Franz Wuketits und Rüdiger Vaas gleich drei Beiräte der Giordano-Bruno-Stiftung unter den Autoren sind.

Darwin war sich über die philosophische Bedeutung seiner Erkenntnisse, die weit über eine reine Naturbeschreibung hinausgehen, schon früh im Klaren. „Wer die Affen versteht, tut mehr für die Metaphysik als Locke", schrieb er in sein Notizbuch. Religionen hielt er für ein erforschenswertes natur- und kulturgeschichtliches Phänomen, die transzendenten Wahrheiten und Werte ihrer Behauptungen aber für falsch. Er verstand sich überwiegend als Agnostiker und hatte sich schon früh, bereits während seines Theologie-Studiums vom Christentum abgewandt - sowohl aus philosophisch Gründen, einschließlich naturwissenschaftlichen, als auch angesichts des unermesslichen Leids und der Ungerechtigkeiten in der Welt, die mit der Existenz eines gütigen Gottes nicht vereinbar sind ("ich glaube nicht an die Bibel als göttliche Offenbarung und deshalb auch nicht an Jesus Christus als Gottes Sohn"). Aus Furcht vor Anfeindungen und aus Rücksicht gegenüber gläubigen Familienmitgliedern und Freunden hielt sich Darwin aber mit öffentlichen Äußerungen weitgehend zurück. Auch war er überzeugt, "dass direkte Argumente gegen das Christentum und den Theismus in der Öffentlichkeit kaum eine Wirkung erzielen; am besten fördern lässt sich die Gedankenfreiheit, indem der Geist der Menschen allmählich erleuchtet wird, was sich durch die Fortschritte der Wissenschaft ergibt."

 

UNIVERSITAS 1/2009 (64. Jahrgang, Nr. 751), Euro 14, -

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