Zehn Gründe, agnostisch zu leben

(hpd) Millionen Menschen haben sich für ein agnostisches Leben entschieden, auch wenn sie selbst das nicht in jedem Fall artikulieren können oder wollen.

Ein Beitrag von Horst Herrmann

Ich fasse Gründe zusammen, die für eine agnostische Lebenshaltung sprechen. Es steht jedem frei, diese angstfrei und rational zu überprüfen, sie zu modifizieren, sich anzuschließen - oder das Ganze als für ihn persönlich unpassend abzulehnen.

 

1. Lebensentwürfe zu erproben, verleiht Lebenssinn.

Der „Zeitgeist"-Vorwurf trifft agnostisches Denken nicht, wenn Agnostiker auch bewusst in der Gegenwart leben und nicht nur auf die Zukunft starren (carpe diem-Prinzip: Pflücke, nutze den Tag!). Sie erproben fürs Leben gern, doch sie geben das Geprüfte nicht als allgemein gültig aus, sondern wahren die Freiheit anderer Menschen.

Suchen ist ihnen lieber als Ein-für-allemal-gefunden-haben. Eine Rückkehr zur Religion erscheint ihrer Sinnsuche nicht angemessen. Agnostizismus ist sowieso kein alternatives theologisches System, keine verbindliche Anleitung zur Welterklärung. Agnostiker lassen nicht immer Absicht walten, doch Vorsicht - vor allem gegen die Zuversicht, die manche wohlfeil im Munde führen.

2. Sich kein beliebiges Denken zu erlauben, steht Denkenden gut an.

Über Parkplätze des Denkens verfügen Agnostiker nicht, sofern sie nachdenklich bleiben und nicht denkfaul wurden. Sie müssen selbst entscheiden, an welcher Stelle ihr Denken pausieren darf. Niemand setzt dem agnostisch Denkenden einen Reflexionsstopp entgegen. Das bedeutet auch, dass der Agnostiker im Ungefähren leben muss. Weltsichten sind nicht einheitlich, sondern zusammengesetzt.

Agnostiker lassen sich jedoch keiner Diktatur der Beliebigkeit unterwerfen. Agnostizismus bedeutet zwar kein dogmatisches, sondern ein offenes System. Gleichgültigkeit bedeutet das aber nicht. Diese ist kein Lebenselixier. Agnostisches Denken öffnet keine Tür in ein „Paradies der Beliebigkeit" (Joachim Kahl).

3. Sogar die Vernunft nicht als fehlerfrei zu betrachten, vermeidet Irrwege.

Agnostiker trauen nicht blindlings der Vernunft, zumal unsere Möglichkeiten und Fähigkeiten zur Erkenntnis begrenzt bleiben. Stellen sie Fortschritte in Erkenntnis und Wissen fest, freuen sich Agnostiker. Doch bleiben sie sich bewusst, dass es sich nur um Marken auf einem langen Weg handelt, dessen Ende niemand kennen kann.

4. „Ewigen" Wahrheiten Zeit zur Selbstwiderlegung zu geben, macht Spass.

Agnostiker finden nicht ständig irgendwelche ewigen Wahrheiten. Sie bleiben offen für die bessere Einsicht. Sie leugnen nicht die Möglichkeit von Phänomenen, von denen unsere Schulweisheit nichts träumt, schwärmen aber nicht ins Blaue hinein, geben nicht vor zu wissen, was sie nicht wissen. Ihnen erscheint selbst das Erörtern transzendenter Fragen nicht sinnlos. Eine definitive Antwort schließen sie allerdings aus.

5. Keine Angst vor dem zu haben, was wir ohnehin nicht wissen können, beruhigt.

Agnostiker halten es für unvernünftig, etwas zu fürchten, solange wir nicht wissen, ob es uns schadet oder nützt. Und da wir beispielsweise nicht wissen, ob die Person im Zustand des Todes Schaden nimmt, ist es unsinnig, den Tod als Endzustand zu fürchten.

6. Ehrlich durch das Leben zu gehen, macht Menschen zu Menschen.

Die Urteilsenthaltung der Agnostiker ist keine entscheidungsschwache Feigheit. Sie wirkt resignativ, ist jedoch ehrlich. Sie arbeitet und erbt nicht nur, wie es Kurt Tucholsky anderen vorgehalten hat: „Diese Kirchen schaffen nichts, sie wandeln das von andern Geschaffene, das bei andern Entwickelte in Elemente um, die ihnen nutzbar sein können."

7. Bereitschaft zum Frieden, nicht aber zu flügellahmer Toleranz zu zeigen, spart Energie.

Agnostiker sind fähig und bereit für Frieden. Ihre Toleranz hingegen ist nicht unbegrenzt.
Sie hat mit Starkgläubigen jeder Herkunft Probleme. Orthodoxe sehen im jeweils Anderen das notwendige Nebenprodukt einer Identitätsbildung, weil die Bestimmung der eigenen Identität immer durch eine Abgrenzung vom Nichtidentischen vorgenommen werden muss. Der in-group der Gläubigen steht damit die out-group der Anders- oder der Nichtgläubigen gegenüber. Diese Grenzziehung bedeutet, sich den Ambivalenzen menschlicher Lebensmöglichkeiten und -erfahrungen zu verschließen.

8. Bescheidenheit gegenüber den Fragen der Welt zu beweisen, beglückt.

Agnostiker halten Gewinne an Bescheidenheit für menschlichen Fortschritt. Sie leben in intellektueller Demut vor den Rätseln der Welt. Die Welt ist für sie nicht so eindeutig zu erklären wie für Orthodoxe jeder Lesart. Agnostiker neigen mehr zum Infragestellen als zum Jasagen, mehr zum Widerspruch als zu irgendeinem Konsens, zur Entgötzung mehr als zur Vergötzung von Vorbildern und Systemen - und freuen sich, wenn sie durch die Realität bestätigt werden (Karlheinz Deschner).

9. Auf Rechthaberei zu verzichten, bewahrt vor Stress.

Agnostiker haben es nicht nötig, ihre Lebenshaltung ständig als überlegen auszugeben, wie das Theisten, aber auch Atheisten tun. Agnostiker wissen, dass ihre Haltung vor jener Langeweile bewahrt, die zusammen mit der anderen „Lebensebbe" (Ernst Bloch), dem Überdruss, weithin die Menschen prägt. Agnostisches Denken hält neugierig, es macht weltoffen und kreativ - aber nicht arrogant. Eine typische Großmannsucht darf nur denen bescheinigt werden, die stets ein „Ich-bin-besser-als-du"-Gesicht tragen, weil sie zu wissen glauben, was wahr ist und wie allein richtig zu leben ist.

10. Selbst denken spart Geld.

Agnostiker sind Aufklärer, keine Missionare. Sie schätzen nicht die Mitläufer und Nachläufer, nicht die kritikimmunen Überzeugungen. Sie gründen weder Parteien noch Sekten und müssen keine Funktionäre bezahlen.