Hessen: Förderung pädagogischer Quacksalberei

HESSEN. Im Laufe des Oktobers wurden Zweifel an der wissenschaftlichen Orientierung

des hessischen Bildungswesens laut, nachdem sich die hessische Kultusministerin Wolff mehrfach für die Behandlung des christlichen <Schöpfungsmythos im Biologieunterricht> stark gemacht hatte und nachdem an der Universität Kassel eine <Stiftungsprofessur für biologisch-dynamische Landwirtschaft> im Sinne der esoterisch-okkultistischen Lehren der Anthroposophie eingerichtet worden war.

Mit Sorge beobachtet die Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) die Bereitschaft in Hessen, Pseudowissenschaften amtlich zu fördern. Viele Schulämter in Hessen, etwa in den Landkreisen Darmstadt-Dieburg, Lahn-Dill und Limburg-Weilburg empfehlen "Edu- Kinestetik" - auch unter dem Namen "BrainGym" bekannt - als pädagogische Maßnahme und fördern sie. Auf der Internetseite <Schule und Gesundheit> des hessischen Kultusministeriums wird unter den Förderangeboten ausdrücklich Motopädagogik / Edu-Kinestetik genannt. Und der Bildungsserver Hessen listet für Januar 2007 als <Fortbildungsveranstaltung für Schulpsychologen> ein Seminar über das Neurolinguistische Programmieren (NLP) auf: „Umgang mit Emotionen"- Abschluss als NLP-Master Dies ist nun der dritte Fall, der nahelegt, dass Wissenschaftlichkeit im hessischen Bildungswesen kleingeschrieben wird.

Die GWUP fordert das Hessische Kultusministerium auf, die weitere Anwendung pseudowissenschaftlicher pädagogischer oder psychologischer Maßnahmen wie Edu-Kinestetik oder NLP, wie auch die Förderung anderer Pseudowissenschaften zu unterbinden und dafür Sorge zu tragen, dass alle Bereiche des Unterrichts und der Pädagogik nach wissenschaftlich gesicherten Standards gestaltet werden. "Die Förderung eines solchen Unfugs gefährdet den wissenschaftlichen Ruf Hessens und der Bundesrepublik Deutschlands", so der Geschäftsführer der GWUP, Amardeo Sarma.

 

Ausgangspunkt der Edu-Kinestetik ist die auf die traditionelle chinesische Medizin zurückgehende Vorstellung, eine kosmische Energie (Qi) fließe in bestimmten Leitbahnen (Meridianen) im menschlichen Körper, welche mit Organen und Muskeln gekoppelt seien. Der "richtige" Fluss dieser Energie sei Vorbedingung für Gesundheit sowie Leistungs- und Lernfähigkeit. Zur Korrektur "energetischer Ungleichgewichte" werden bestimmte Bewegungen sowie (in Anlehnung an vermeintliche Akupunkturpunkte) ein Drücken bestimmter Körperstellen empfohlen.
Diagnostiziert werden diese vermeintlichen Ungleichgewichte durch einen <Muskeltest>.

Die GWUP wendet sich ausdrücklich nicht gegen gymnastische Übungen an sich, weist jedoch auf folgende Tatbestände hin:

  • Die Edu-Kinestetik entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage: sie entstammt vielmehr religiös-magischen Vorstellungen;
  • Der Versuch, diese Vorstellungen mit moderner Neurobiologie und Psychologie in Einklang zu bringen, ist gescheitert;
  • Der als diagnostisches Mittel eingesetzte Muskeltest ist völlig ungeeignet;
  • Die Wirksamkeit der Methode insgesamt ist nicht nachgewiesen.

 

Ähnliches gilt für das Neurolinguistische Programmieren: Auch dieses steht im Widerspruch zu den Erkenntnissen der modernen Psychologie und Neurobiologie.

Das Bayerische Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB) hat bereits 1997 die Edu-Kinestetik evaluiert und als esoterisch eingestuft. Sein Urteil: "Die Verbreitung derartiger Denkmodelle darf nicht staatlich gefördert werden; es darf nicht der Eindruck entstehen, es handle sich dabei um seriöse, allgemein anerkannte Wissenschaft." Als Fazit hält es fest: "Lehrer müssen heute verstärkt nach ganzheitlichen, handlungs- und erlebnisorientierten und die Bewegung einbeziehenden Methoden suchen und sie im Unterricht anwenden. Dies ist ein schwieriges Unterfangen. Esoterisches Gedankengut und simplifizierende Methoden sind dafür kein Ersatz." (ISB Arbeitsbericht Nr. 290, S. 56-57).

Ein Gutachten der Ludwig-Maximilians-Universität München kommt zu dem Schluss, dass die biologischen Auffassungen der Edu-Kinesiologie unhaltbar sind: "Sie stellen eine derartige Simplifizierung und Verfälschung der Vorgänge des zentralen Nervensystems und seiner komplexen Organisation zur Regelung von Aktion und Perzeption dar, dass die Aufnahme so erklärter diagnostischer und therapeutischer Techniken zum Umgang mit Kindern in hohem Maße beunruhigen muss." (ISB Arbeitsbericht Nr. 290, Anlage 2, S. 5).

Während diese Beurteilungen in Bayern dazu führten, dass die Edu-Kinestetik als pädagogische Maßnahme weitgehend verschwand, wird sie dessen ungeachtet in Hessen offenbar mit Wissen des Kultusministeriums betrieben und gefördert.

Folgende Vorkommnisse in Hessen geben Anlass zu Sorge:

  • Der Landkreis Darmstadt/Dieburg gab zum Schuljahresbeginn 2005/2006 einen Elternratgeber heraus, in dem Eltern bei Schulproblemen der Besuch von "Kinesiologen" empfohlen wird (S.31).
  • Das Staatliche Schulamt für den Lahn-Dill-Kreis und den Landkreis Limburg-Weilburg unterhält eine "Abteilung für Neurophysiologische Kindesentwicklung" (ANKE). Die Leiterin dieser Abteilung wird als Expertin für "Reflexintegration, Motopädagogik und Edu-Kinestetik" bezeichnet.
  • Die Abteilung bietet "motopädagogische und edukinestetische" Förderung für Kinder und Kurse für Eltern, Lehrkräfte und Mitglieder von Schulämtern an. Eine enge Zusammenarbeit besteht dabei nach eigenen Angaben mit dem HELP (ehem. Hessisches Landesinstitut für Pädagogik) und der Universität Gießen. Auch der schulpsychologische Dienst ist angeschlossen und propagiert (z.B. auf einer Tagung zur Gewaltprävention) Edu-Kinestetik.
  • Die "Erfahrungen" mit den von ANKE initiierten Aktivitäten wurden in einem Buch ("Das bewegte Klassenzimmer") im "Verlag für Angewandte Kinesiologie", dem hauseigenen Verlag des "Instituts für Angewandte Kinesiologie" (Freiburg i.Br.) veröffentlicht. Eine positive Rezension mit Lob für den "Vorstoß" zur Edu-Kinestetik wurde vom leitenden Schulamtsdirektor des Schulamts veröffentlicht. Mitautor des Buches ist ein Medizinaldirektor i.R. des Landes Hessen.
  • Das Hessische Kultusministerium unterhält ein Arbeitsfeld "Schule und Gesundheit", in dem ein Modul "Bewegungsfördernde Schule" enthalten ist. Dieses Modul stützt sich zu einem großen Teil auf die Arbeit von ANKE.
  • Das Hessische Kultusministerium (HKM) betont die Vorbildfunktion, die das Schulamt Lahn-Dill/Limburg-Weilburg in Sachen Prävention durch sein Angebot an "differenzierten Wahrnehmungs- und Bewegungsangeboten" habe und fördert die Aktivitäten ausdrücklich (siehe Kleine Anfrage im Hessischen Landtag des Abgeordneten Irmer vom 4.9.2003). Im Jahr 2006 veranstaltet das HKM eine Fachtagung "Schule und Gesundheit", auf der Mitglieder von ANKE referieren. "Zentrales Anliegen" der Tagung sei u.a., "wissenschaftliche Erkenntnisse (!) aus der Bildungs- und Gesundheitsforschung mit Erfahrungen aus der Praxis zusammenzuführen".
  • In einer Schrift zum "Hessischen Netzwerk Schule und Gesundheit" wird im "Baustein Bewegung" Motopädagogik, Edu-Kinestetik und Neurophysiologie als zentrale Komponenten der Gesundheitsförderung schon auf dem Deckblatt genannt.
  • Zahllose Schulen nennen (bundesweit) Edu-Kinestetik/BrainGym als Baustein in ihrem Schulprogramm
  • Zahllose Volkshochschulen bieten Edu-Kinestetik/Brain Gym an.

(Die entsprechenden Quellen liegen der GWUP vor.)