Maria Montessori: Reformpädagogik, Humanismus und ein Hang zur religiösen Esoterik

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Grab von Maria Montessori in Noordwijk.

Maria Montessori ist bis heute eine der bekanntesten und einflussreichsten Reform- und Freiheitspädagoginnen. Sie repräsentierte ein neues Frauenbild und revolutionierte die Kindererziehung. In ihrer Pädagogik spielten jedoch auch Religion und Esoterik eine tragende Rolle, wodurch ein fragwürdiges Wissenschaftsverständnis entstand. Am 6. Mai 2022 jährte sich ihr Todestag zum 70. Mal.

Maria Montessori wurde am 31. August 1870 in Chiaravalle im Süden Italiens in eine Familie des liberalen Bildungsbürgertums geboren. Schon früh fiel sie durch ihre Begabung und ihre vielseitigen Interessen an den Naturwissenschaften auf. Unbeirrbar gegenüber allen Vorbehalten der Zeit studierte sie Medizin, Mathematik und Biologie und promovierte als erste Frau Italiens zur Ärztin, was für mächtiges Aufsehen sorgte. Ihr Studium bestand sie mit Bravour, erlebte aber auch, dass sie beispielsweise den Hörsaal erst betreten durfte, wenn ihre männlichen Kollegen ihre Plätze eingenommen hatten. Leichen zu sezieren war ihr verboten und Schikanen ihr gegenüber waren häufig. Montessori tat nicht das, was von Frauen in ihrer Zeit erwartet wurde. Die italienischen Medien allerdings feierten sie als Idealbild der neuen, intelligenten Frau; bei vielen Gelegenheiten setzte sie sich für die Rechte der Frauen ein und engagierte sich in der Frauenbewegung. Dreimal wurde sie für den Friedensnobelpreis nominiert.

Zunächst leitete sie eine Schule für geisteskranke Kinder, wo sie die wesentlichen Einsichten in ihre Pädagogik gewann. Die Arbeit mit diesen Kindern hatte einen dermaßen überragenden Erfolg, dass sie bei einer öffentlichen Prüfung bessere Ergebnisse als "normale" Kinder an Intelligenz erzielten.

Kurz nach der Jahrhundertwende nahm sie ein Studium der Anthropologie, Psychologie und Erziehungsphilosophie auf. 1904 wurde sie Dozentin an der Universität in Rom. 1907 erhielt sie die Gelegenheit, in Roms Armenviertel San Lorenzo in einem Kinderhort zu arbeiten, der "casa dei bambini". Hier wurden ihre pädagogischen Vorstellungen praktisch umgesetzt.

Zwei Jahre später erschien ihr Bestseller "Die Methode der wissenschaftlichen Pädagogik in Anwendung auf die Kindererziehung und die Kinderhäuser", der sich weltweit verkaufte und dessen Ideen sie auf Reisen und Vorträgen auf allen Kontinenten verbreitete. Weitere Kinderhäuser entstanden und Montessori begann Lehrer*innen auszubilden. Heute gibt es mehr als 25.000 Montessori-Schulen und -Kindereinrichtungen auf der Welt.

Die Befreiung des Kindes

Der Kernsatz von Montessoris Theorie und Pädagogik lautet "Hilf mir, es selbst zu tun" – aus eigenem Antrieb und ohne erwachsene Anleitung, ein Vorgang eigenständigen und intensiven Lernens. Kindliche Eigeninitiative als Grundlage des Lernens, als "Baumeister seiner selbst", um geistige und körperliche Fähigkeiten zu entwickeln, ist der Dreh- und Angelpunkt ihrer Pädagogik. Kinder sollen nicht durch vorgegebene Raster oder durch Drill erzogen werden, sondern durch Respekt vor ihrer Individualität. Durch eine freiheitliche Entwicklung ihrer ureigenen Talente, mit Liebe und auf Augenhöhe, sollte eine Förderung des Kindes erzielt werden. Selbstständigkeit statt Abhängigkeit von erwachsenen Erziehern*innen war das revolutionäre Bildungsziel.

Maria Montessori
Maria Montessori, 1913
(Foto: Wikimedia Commons, gemeinfrei)

Was heute als selbstverständlich gilt, war für die damalige Zeit eine bahnbrechende Einsicht. Diese grundsätzliche Überzeugung musste sich gegen das übliche Verständnis einer obrigkeitshörigen, patriarchalischen und gewalttätigen Erziehungsvorstellung durchsetzen, und dies zu einer Zeit, in der das Erziehungswesen "das finsterste Kapitel in der italienischen Sozialgeschichte" war, wie die britischen Historiker Bolton King und Thomas Okey 1901 formulierten. Kinderarbeit im Bergbau oder in der Landwirtschaft, dazu geistlose Paukerei und der Rohrstock in Schule und Familie waren selbstverständlich. Kinder wurden durch Maria Montessoris Befreiungstheorie vom Objekt zum Subjekt.

Die Reformpädagogin, die die Freiheit der Kinder, den Respekt und Kinderrechte, aber auch deren spontane Gefühlsäußerungen vehement verteidigte, war andererseits auch Kind ihrer Zeit. Herumtoben, lautes Schreien oder unkontrolliertes Fantasieren fand ihre Missbilligung. Von Kindern forderte sie gleichermaßen Selbstkontrolle und den Respekt anderen gegenüber. Freie Arbeit, an die jeweilige Entwicklungsstufe des Kindes angepasst, wobei die Älteren den Jüngeren helfen, war gleichermaßen ein zentrales Element ihrer Erziehungsvorstellung.

Zur Förderung der Kinder in den jeweiligen Lernsituationen entwickelte Montessori eigene Lernmaterialien, die bis heute ihre Verwendung finden. Die geordnete Bereitstellung in vorbereiteter Umgebung ist für die Montessori-Pädagogik wesentlich. Um zum Beispiel Buchstaben zu erlernen, fühlen und begreifen Montessori-Schüler gestaltete Buchstaben und lernen so durch den sinnlichen Prozess. Bekannt geworden sind die goldenen Perlen, um den Zahlenraum bis 10 oder den Hunderter-Zahlenraum zu erfassen. Um die Konzentration zu fokussieren, bietet das Material lediglich eine Herausforderung für das Kind, um den Lerninhalt zu begreifen. Das Eigeninteresse des Kindes entscheidet dann über die Verwendung der Materialien. Die Funktion der Erziehenden liegt in der Begleitung des Lernprozesses, in den er/sie nicht eingreift oder über den er/sie nicht belehrt, ganz im Sinne der Devise: "Gib dem Kind Freiheit und es wird sich offenbaren." Immer geht es um die Autonomie des Kindes, bei dem jede überflüssige Hilfe oder Beeinflussung als ein Hindernis für die Entwicklung angesehen wird. Bildung als Akt der Freiheit und die freiheitliche Äußerung als Bildung sind bei Montessori untrennbar.

Katholizismus, Theosophie und Wissenschaftlichkeit

Neben den aufklärerischen Errungenschaften im Hinblick auf Kinder und Frauen, die ihr in der heutigen Gesellschaft ein vor allem positives Bild einbrachten, ist weniger bekannt, dass in ihren Konzeptionen auch die Religion und esoterische Vorstellungen eine bedeutende Rolle spielten. Maria Montessori war gläubige Katholikin und bekannte sich Zeit ihres Lebens dazu. Trotz der Tatsache, dass sie sich als eine positivistisch orientierte Wissenschaftlerin begriff, stellte ihre Glaubensüberzeugung für sie keinen Widerspruch dar. Montessoris Engagement im Zusammenhang mit ihrer katholischen Religionspädagogik, insbesondere in der Zeit von 1916 bis 1936 während ihres Aufenthaltes in Barcelona, führte zur Veröffentlichung von insgesamt vier maßgeblichen Schriften zu diesem Thema. Auch in ihrem Hauptwerk "Il metodo della pedagogia scientifica all' educazione infantile nelle case di bambini" (erschienen 1909 und 1913) widmete sie sich religiöser Pädagogik und religiösen Aspekten ihres Erziehungsmodells. Ihre religiöse Überzeugung führte zwangsläufig zu einer Anerkennung ihrer pädagogischen Vorstellungen in katholischen Kreisen. Dieser Aspekt von Montessoris Gedankengebäude wird bis heute kontrovers diskutiert.

In ihrem Gesamtwerk finden sich eine Menge biblischer Zitate, katholischer Glaubenssätze und Bezugnahmen, die sie als notwendige Bereicherung ihrer Pädagogik verstand. Dennoch war ihr katholischer Glaube keineswegs eine enggefasste Religiosität im Sinne biblischen Buchstabenglaubens. Fehle allerdings Religion, "so fehlt uns etwas Fundamentales für die Entwicklung des Menschen". In der Zeit ihres Aufenthaltes in Barcelona entwickelte sie ein konkretes Konzept katholischer Religionspädagogik für Kinder bis zwölf Jahre, in der Elemente katholischer Liturgie wie Altar, Ablauf der Messe, Sakramente oder der liturgische Jahreskreis verwendet wurden. Ihr religionspädagogisches Verständnis ging davon aus, dass in spezifischen "sensiblen Phasen" Zeitfenster existieren, in denen Kinder offen für das Erlernen eines religiösen Verständnisses seien. Im Alter bis sechs Jahre erlerne das Kind ein erstes religiöses Empfinden durch das Absorbieren von Ritualen, Gegenständen oder auch Gerüchen, während sich in der weiteren Entwicklung ein Verständnis für ein moralisches Bewusstsein forme. Ihre Überzeugung war "das Göttliche im Menschen zu erkennen, zu lieben und ihm zu dienen".

Neben Montessoris religiösem Verständnis wurzelt ihre pädagogische Theorie ebenso in einer esoterischen, spirituellen Überzeugung. Dieses theosophische Element verband sie zu einem einheitlichen Deutungsmuster. In ihren Schriften und Vorträgen bekannte sie sich dazu, dass die Natur ihr "ihre Geheimnisse eingeflüstert" und sie "in eine gnostische Position versetzt" habe. Ihre vorgebliche Wissenschaftlichkeit ist insofern durch Esoterik und Mystizismus in eklektischer Weise verbunden. Empirische Einsichten durch das Beobachten kindlicher Verhaltensweisen wurden dann in diesem Sinne interpretiert. Für Montessori galt die Harmonie, nicht der Konflikt oder der Wettstreit, als die entscheidende Kraft, die zu menschlicher Höherentwicklung führe, einen göttlichen Evolutionsplan sichtbar mache und ihn erfülle. Diesem kosmischen Plan, dieser allumfassenden Mission, sei jegliches Leben unterworfen.

Demzufolge konnte es für sie keine Akzeptanz der darwinistischen Evolutionstheorie geben, da nach ihrem Verständnis jegliche Natur a priori von einer übergeordneten Bestimmung eingebunden und bestimmt sei. Ihre kosmische Weltsicht bestimmte die Stellung des Individuums im Universalen. Wenn auch dem menschlichen Verständnis nicht begreifbar, so artikuliere sich das Unbewusste dennoch im Menschen. Nur im Rahmen dieser Vorherbestimmtheit gab es für sie einen Handlungsauftrag, den göttlichen Evolutionsplan zu erfüllen. Jegliche Natur bekam somit eine sakrale Dimension.

Die von ihr begriffene Wirklichkeit des Kindes stellte einen Baustein ihres Gedankensystems dar, in dem theosophische Elemente miteinander im Verbund standen. Insofern gab es für sie lediglich eine lineare Entwicklung des Menschen, der er zu folgen hatte. Für Montessori war die infantile Entwicklung Ausdruck eines göttlichen Willens. Ihre Methodik verwirklichte dann diesen göttlichen Schöpfungsplan. Den in der Natur fest angelegten Bauplan habe jeder Mensch in seiner individuellen Entwicklung zu realisieren. Abweichungen hiervon konnten demnach folgerichtig nur als pathologische Erscheinungen verstanden werden. Konflikte, Abhängigkeiten, Launen, Lügen, aber auch Unmut, Langeweile oder organische Störungen sollten durch die Konzentration auf die "tiefere Natur" und die "inneren Kräfte" einer "Normalisation", zugeführt und dadurch beseitigt werden.

Bei der menschlichen Entwicklung des Kindes gibt es nach Montessori sensitive Entwicklungsperioden, die in ihrer Differenz unterschiedlich angegangen werden sollten. Eigne sich das Kind zunächst durch die "polarisierte Konzentration" schöpferische Potentiale an, die impulsartig erfasst werden (Nebule), so soll in der zweiten Phase dem Kind seine eigene Unzulänglichkeit bewusstwerden, so dass es einen Willen zur Selbsterziehung erlernt, sich entwickelt und selbstverwirklicht (Hormé). In der letzten entscheidenden Entwicklungsphase (Mneme) erlernt das Kind die nicht sichtbaren, aber existierenden Kräfte zu begreifen, die den göttlichen Plan ausmachen. So verwirkliche das Kind seine Bestimmung in diesem Kontext.

Ihre Spiritualität als eine übergeordnete Religiosität und die Einsicht in eine höhere Weltkenntnis bewirkte zwangsläufig ein konservatives, ja fragwürdiges Wissenschaftsverständnis. Dieser Widerspruch in ihrem Theoriegebäude erscheint als nicht auflösbar. Eine nachprüfbare Wissenschaftlichkeit war bei ihr nicht vorgesehen. Letztlich ist das Ideelle in Montessoris philosophischem Verständnis das Entscheidende, das jegliches Materielle bestimmt und formt. Die Erfassung und Deutung von situativen Verhaltensmomenten bei Kindern stellen im Kern die Basis ihrer pädagogischen Theorie, ihres theoretischen Fundaments dar.

Dieser Brückenschlag zwischen katholischen Glaubensgrundsätzen, Theosophie und ihrem Verständnis von Erziehungswissenschaft als Einheit war für sie die geeignete Methode, die Befreiung von Fehlentwicklungen der Menschheit zu gewährleisten. Ihr Ziel war es, einen Beitrag für eine "übernationale, menschliche Bruderschaft" zu leisten. Die konstruktiven Kräfte jedes Kindes sollten zum "Aufbau einer beständigen, harmonischen und friedlichen christlichen Kultur" genutzt werden.

Ziele

Ihr war klar, dass ihre pädagogischen Zielbestimmungen nur in geduldiger und langwährender Arbeit zu erreichen waren. Friedliche Verhältnisse zu erreichen, ihnen zumindest näherzukommen, sah sie als Fixpunkt ihrer Pädagogik an. Der fortwährende Kampf der Erwachsenen mit dem Kind schaffe letztlich nur Sieger und Besiegte. Diesen Teufelskreis zu durchbrechen galt ihr Interesse, durch die Schaffung eines neuen Erziehungsverhältnisses auf anderen sittlichen Grundlagen. In Überschätzung ihrer methodischen Möglichkeiten folgerte sie, dass ihre Erziehungstheorien geeignet wären, friedensstiftend für die Gesellschaft zu wirken, ja Kriege beherrschbar zu machen.

Eine Befreiung des Kindes ganz im Sinne Maria Montessoris, in den Grenzsetzungen gegebener kapitalistischer oder autoritärer Verhältnisse, ist wohl nicht denkbar. Eine Hoffnung ist Montessoris Emanzipationsgedanke dennoch.

Die Pädagogin starb im südholländischen Noordwijk aan Zee am 6. Mai 1952. Auf ihrem Grabstein steht die Inschrift: "Ich bitte die lieben, allmächtigen Kinder, sich mit mir zu vereinen für den Aufbau des Friedens im Menschen und in der Welt."

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