(hpd) Die Rezension eines Romans kann selber zu einer Art Erzählung werden, wenn sich der Rezensent darauf einlässt: Einfälle zum aktuellen Reißer von Jens Johler.
Halt. Da war doch was. Das hab´ ich doch schon mal gelesen. Zurück zu den Krimis. Und da liegt er. Was macht es, lieber Leser, liebe Leserin – soviel Zeit muss sein – für einen Unterschied, in dieser initialen Kurzgeschichte anstelle meines Ichs mein Unbewusstes, mein Gehirn, mein Karma oder Gott dafür zu bemühen, dass mir Kritik der mörderischen Vernunft auffiel? Die anscheinend unaufhaltsame Ausbreitung der naturwissenschaftlichen Denkweise, die alle Lebensbereiche wie Dinge behandelt, tötet. Das steht schon in Max Horkheimers Kritik der instrumentellen Vernunft. Nun also auch im Trivialroman. Warum nicht. Ein kurzer Blick auf den Klappentext: „Mord im Namen des freien Willens. Der Mörder nennt sich »Kant«“. Verstehe ... „Seine Opfer sind Wissenschaftler, die an der Erforschung des menschlichen Gehirns arbeiten.“ Originell. „Seine Mittel sind brutal, denn er kennt kein Mitleid.“ Django lebt! „Der Wissenschaftsjournalist Troller ist der einzige, der »Kant« auf der Spur ist und ihn stoppen kann, bevor er noch mehr Morde begeht.“ Da die Bibliothek, die ich in meinem zweiten Leben lesen würde, bereits ziemlich überquillt, will ich mich nicht mit einem dritten trösten und lege das Buch zurück.
Einige Minuten und weitere Blicke in ungezählte Auslagen der Buchkaufhauskette später, hält mir meine Frau die Kritik der mörderischen Vernunft unter die Nase. »Das wär´ doch was für Dich!«. Ich bitte sie, mal selber reinzuschauen. Wir setzen uns mit Papierstapeln in die Lesecke. Sie findet es gut geschrieben. Jetzt fange ich auch an. Die erste Seite flirrt mir vor den Augen, der Einstieg ist furios. Troller, um die fünfzig, übrigens mein Generationsgenosse (der Autor, Jens Johler, hingegen ein Achtundsechziger). Und dann, auf der dritten Seite: „Ich bin der Exot, der Rufer in der Wüste. Die anderen verstehen nicht, warum ich mich über Dinge aufrege, die sie für banal und ungefährlich halten, und ich verstehe nicht, warum kein Mensch sich darüber aufregt“ (9). Gekauft.
Seit über zwanzig Jahren arbeite ich in einem Hirnforschungsinstitut, als Geisteswissenschaftler. »Das glaubt ihm ja doch keiner« war in den 1990er Jahren der Kommentar eines gerade ein menschliches Gehirn sezierenden, liebenswürdigen Neuropathologen, als ich ihm über die in den Massenmedien auftauchende These Wolf Singers, der freie Wille sei eine Illusion, menetekelte. Auch wenn „Deutschlands Hirnforscher Nummer eins“, der „das Bindungsproblem gelöst“ hat (23), im Roman Professor Ritter heißt und in Berlin forscht, ist das Urbild dieses „Gentleman aus Bayern“ (31) für jeden Kenner evident. Ohne klammheimliche Freude. „Troller sah, eingezwängt in diesen [Primaten-]Stuhl, einen in einem fleckigen Glencheckanzug gekleideten Menschenkörper. Er sah eine bizarr in die Lehne des Stuhls verkrallte Hand. Er sah einen mit blutverkrusteten Löchern verunstalteten Menschenkopf und ein Gesicht, das auch der Tod nicht erlöst hatte. [...] »Oh, mein Gott! [...] Er hat nach Spiegelzellen gesucht [...] Ritter bei den Affen. Der Mörder bei Ritter«“ (34 ff.). Habe ich nicht tatsächlich schon Tierschützer Wolf Singer im Affenstuhl plakatieren sehen? »Kant« hatte ihn selbstverständlich vorher narkotisiert.
Wer nach einer gleichermaßen spannende wie informativen Unterhaltung sucht und noch immer nicht neugierig geworden ist, sollte es woanders versuchen. Der Inhalt wird hier nicht verraten. Nur soviel zum weiteren Einspeicheln: Vertraute Register dieses Genres – Ego, Alter Ego, Sex n Crime n Rock n Roll, Weltverschwörung, Showdown – werden gezogen und so ineinander verwoben, dass aufmerksame Leser durchgehend auf der Höhe des Geschehens bleiben (können). Diejenigen, die nicht alle TV-Dokumentationen über Hirnforschung verfolgen, dürfte die Darstellung ihrer Fortschritte, die durchweg verlässlich, anschaulich und verständlich gelingt, allerdings schocken. Insofern handelt es sich um einen Thesenthriller.
Auf eine seiner subversiven Konstellationen möchte ich näher eingehen: „»Hören Sie nicht die Signale?«, fragte [»Kant«] mit leiser Stimme. »Hören Sie nicht die Philosophen und Biologen, die Atheisten und Darwinisten, die immer lauter davon sprechen, dass Religion eine Geisteskrankheit sei, ein Gotteswahn? Ich sage Ihnen, wer von Krankheit spricht, der will die Krankheit heilen. Mit welchen Mitteln heilt man heutzutage Geisteskrankheiten? Mit der Psychoanalyse? Mit Gesprächs- oder Verhaltenstherapie? Nein, die Zeiten dieser Heilmethoden sind vorbei! Heute regieren die Psychopharmaka – und morgen wird es der direkte Eingriff ins Gehirn sein, ob nun mit Hilfe von Operationen oder mit elektromagnetischen Feldern. Und damit wir uns rechtzeitig daran gewöhnen, dass man in unsere Hirne eingreifen wird, gibt es ein weiteres Signal, das mit dem regelmäßigen Rhythmus eines Pulsars gesendet wird, die Behauptung, der freie Wille sei eine Illusion!«“ (413 f.). »Kant«, der die menschliche Freiheit vor den Hirnforschern retten will, hat ein krankes Gehirn. That´s real cheapness. And cheapness is what I want (Frank Zappa). Der Reflexionsbogen des Buches, dass Wissenschaft und Humanismus nicht dasselbe sind, ist mitnichten trivial.
Betreibt der Titel Kritik der mörderischen Vernunft Bauernfängerei? Ich zumindest habe mich bei der Lektüre gefragt, wie weit die verkaufsfördernde Anknüpfung an Kants Kritik der reinen Vernunft wohl reichen wird. Bleibt sie innerhalb der Grenzen der Hirnforschung? Wem das zu sophisticated klingt, sollte einfach zum Roman greifen.
Also noch mal. Unter uns. Meine Frau hat mich gewarnt, jetzt anstrengend zu werden. Leichter gesagt als getan, wenn es um Kants Philosophie geht. Das war wohl auch Jens Johlers Problem, der Kants Argument, warum die menschliche Freiheit eine Idee und keine Tatsache ist, nicht referiert, sondern inszeniert. Jedenfalls ist der „Kantianer“ Troller (329) nicht in der Lage, gegen »Kant« die Kantsche Kritik zu artikulieren: Sowohl »Kant«, der Freiheit behauptet, als auch der ominöse „Club“, für den sie nicht existiert, sind gleichermaßen dogmatisch. Da das Kausalitätsprinzip der naturwissenschaftlichen Empirie denknotwendig immer schon vorausgesetzt ist, kann ein Unbedingtes weder bewiesen noch ausgeschlossen werden. Das ist anstrengend. Wie eine optische Täuschung, die auch dann nicht verschwindet, wenn man sie durchschaut hat.
Ausgerechnet ein mit Troller befreundeter „Wissenschaftler“ (438) deutet ihm etwas von dieser – dramaturgisch dann entscheidenden – Position an (518). Wer Kant nicht kennt, kann das nicht erkennen. Insofern begrenzt die Kritik der mörderischen Vernunft zwar architektonisch die Hirnforschung, sitzt aber deren brüchigen Stützpfeilern auf. Etwa wenn Troller behauptet, „Kants Betonung der Konstruktionsleistungen unseres Verstandes“ stimme „mit den Erkenntnissen der neueren Hirnforschung überein“ (432). Dies trifft nicht zu. Von Kant aus gesehen bleibt das Gehirn als naturwissenschaftliches Untersuchungsobjekt durch das menschliche Erkenntnisvermögen konstituiert. Das Gehirn ist bloß Erscheinung. Sätze wie „Zugleich begann sein Gehirn zu assoziieren“ (378) oder „Noch während Troller das Interview las, arbeitete eine andere Region in seinem Gehirn an der Frage [...]“ (379) sind metaphysisch. Wogegen nichts zu sagen wäre, wenn sie es denn zugäben. So aber partizipiert die Kritik der mörderischen Vernunft an der suggestiven Rhetorik der Neuroideologie.
Lässt der Thriller zu wünschen übrig? Das kommt darauf an. Die Wirklichkeit, in die uns das Buch entlässt, ist schon schrill. Wolf Singer sagt, Keiner kann anders, als er ist. Was »Kant« und Troller aufregt, sind keine Halluzinationen.
Gerald Kreft
Jens Johler: Kritik der mörderischen Vernunft. Thriller. Ullstein 2009. 540 S. € 9,95.